Wie weiter mit der Occupy-Bewegung? -
Es steht außer Frage, dass es sich hier um die wichtigste Bewegung
handelt, die wir in den letzten vierzig Jahren auf den Straßen der USA
erlebt haben. Allein schon die Tatsache, dass sie sich innerhalb
weniger Wochen auf tausend Städte ausweitete, bezeugt dies. Das
lawinenartige Anschwellen der „Forderungen“ hat die gesellschaftliche
und ökonomische Misere von vierzig Jahren, deren passives Erdulden nur
von gelegentlichen Ausbrüchen des Widerstands unterbrochen worden war,
mit einem Mal zu einer nicht mehr zu leugnenden Realität gemacht.
Politiker, Fernsehikonen und diverse Experten sind völlig unvorbereitet
von einer Bewegung erwischt worden, die in ihrem plötzlich völlig
bedeutungslos gewordenen Universum nicht mehr mitspielen wollen. Auch
wenn viele Statements der Bewegung wie aus einer „Wundertüte“ zu
stammen scheinen, hat sie es ganz zu recht vermieden, sich zu sehr mit
bestimmten Forderungen, Ideologien oder Anführern zu identifizieren.
Aus der jahrelangen alltäglichen sozialen Realität hat sie nur zu gut
gelernt, nicht auf dieses Spiel hereinzufallen. Hinter allem steht das,
was die Bewegung zum Ausdruck bringt: Die Ablehnung einer Gesellschaft,
die immer mehr Menschen auf den Schrotthaufen wirft. Würde sich die
Bewegung zu sehr auf irgendeine Wunschliste von Forderungen beziehen,
würde sie zurückbleiben hinter ihrem eigenen tiefen Gespür dafür, dass
sich alles ändern muss, und der Gewissheit, das nichts so bleiben kann,
wie es ist.
Die wichtigsten Kräfte, die über das Potenzial zur Umlenkung dieser
Bewegung in geordnete Kanäle verfügen (die Demokratische Partei und die
Gewerkschaftsvertreter), ringen nun darum, die Bewegung zu
kontrollieren, zu zerstreuen und zu unterdrücken, so wie sie es zum
Beispiel im Frühjahr in Wisconsin geschafft hatten. Aber ganz so
einfach gelingt ihnen das nicht.
Angesichts von Platzbesetzungen in tausend Städten verbieten sich
vorschnelle Verallgemeinerungen. Die Medien hatten versucht, den Kern
der Bewegung als jung, weiß, arbeitslos und „Mittelschicht“ zu
beschreiben – wobei letzteres sich zunehmend als irreführende
Bezeichnung für die Arbeiterklasse entpuppt. Aber unabhängig davon, wie
sich die Bewegung in der Anfangsphase zusammensetzte, hat sie sich in
verschiedenen Städten durch die starke Beteiligung von Schwarzen,
Latinos und älteren Menschen deutlich ausgeweitet (am sichtbarsten
wurde dies bei der Massendemonstration zum Hafen von Oakland am 2.
November).
Wir wollen hier nicht näher auf die tausenden von Slogans eingehen –
diese Vielfalt ist nur zu verständlich bei einer so jungen Bewegung,
die zum großen Teil aus Menschen besteht, die zum ersten Mal in ihrem
Leben eine solche Erfahrung machen. Vorstellungen wie die „1%“, „die
Reichen sollen ihren fairen Anteil bezahlen“, „lasst die Banken
blechen“ oder „schafft die Zentralbank ab“ finden sich dort genauso wie
Angriffe auf den „Kapitalismus“. Mit der starken Konzentration auf die
„Banken“ wird sicherlich übersehen, dass die Quelle des massenhaften
Elends in der Krise des kapitalistischen Systems, eines Systems der
Lohnarbeit, liegt. Daher gibt es auch keine Vorschläge, die Krise durch
den Aufbau einer Welt jenseits der Lohnarbeit zu überwinden, also durch
eine sozialistische oder kommunistische Gesellschaft (wobei wir uns
darüber im Klaren sind, dass diese Worte in allzu vielen Fällen
missbraucht worden sind). Um zu einer solchen Orientierung zu gelangen,
müsste offen über die Klassenfrage gesprochen werden. Es ist
offensichtlich, dass sich die große Mehrheit der Menschen aus der
Arbeiterklasse in den USA trotz ihrer Sympathien für die Bewegung nicht
aktiv an ihr beteiligt – vielleicht nicht zuletzt deswegen, weil sie
arbeiten und um ihr tägliches Überleben ringen.
Die Bewegung der Platzbesetzungen muss die kreative Militanz von
tausenden Menschen auf der Straße nutzen, um die große Mehrheit zu
erreichen, die manchmal nur ein paar Blöcke von den Straßenkämpfen
entfernt ganz normal ihren Geschäften nachzugehen scheint. Die
zunehmende Zahl von Aktionen gegen Zwangsversteigerungen und
Zwangsräumungen hat zur Ausweitung der Bewegung beigetragen. Ein
wichtiger nächster Schritt könnte darin bestehen, Häuser zu besetzen,
um Orte für Versammlungen und dringend benötigten Wohnraum zu schaffen,
oder für Workshops und Veranstaltungen. Darüber hinaus sollte die
Bewegung mit Arbeitsniederlegungen und Betriebsbesetzungen verbunden
werden, wodurch in schärferer Weise als bisher die Frage des
Privateigentums und die Frage „Wer herrscht?“ aufgeworfen würde.
Ein nahe liegender Anknüpfungspunkt sind die anstehenden
Tarifverhandlungen des Local 100 der Transit Workers Union
(Gewerkschaft der Bus- und U-Bahn-FahrerInnen in New York City). Ein
weiterer wäre die anhaltende Pattsituation zwischen dem Local 21 der
Hafenarbeiter an der Westküste (ILWU) in Longview (Washington) und der
EGT-Corporation, die massenhaft Streikbrecher einsetzt. Oder die
geplante Besetzung von fünf öffentlichen Schulen in Oakland zusammen
mit Eltern und SchülerInnen, um ihre Schließung zu verhindern. Wir sind
uns sicher, dass es der Bewegung im Rahmen solcher Aktionen nicht
schwer fallen wird, zwischen den ArbeiterInnen an der Basis (die sich
bereits bei einigen Gelegenheiten beteiligt haben) und den
Gewerkschaftsbürokraten zu unterscheiden, die eine zahnlose
„Solidaritätserklärung“ nach der anderen verabschieden, ohne die
geringste, noch nicht einmal symbolische Mobilisierung.
Noch weniger müssen wir uns mit den Politikern der Demokratischen
Partei aufhalten, allen voran der Bürgermeisterin von Oakland Jean
Quan, die versucht haben, die Bewegung für ihre eigenen Ziele zu
benutzen, bevor sie dann die Bereitschaftspolizei schickten.
Besetzungen sind jedoch nur ein weiterer Schritt: Darüberhinaus wird es
darum gehen, die gesellschaftliche Produktion zu übernehmen, sie an
unseren Bedürfnissen auszurichten und sie auf eine völlig neue
Grundlage zu stellen.
Was auch immer in der nächsten Zukunft geschehen wird, die Mauer des
Schweigens über 40 Jahre lang aufgehäuftes Elend ist durchbrochen
worden. Jeden Tag werden neue Angriffe auf die arbeitenden Menschen
bekannt, während der globale Kapitalismus außer Kontrolle gerät. Noch
nie war so klar, dass die kapitalistische „Normalität“ auf der
Passivität derjenigen beruht, die unterdrückt werden, um das System zu
retten. Mit dieser Passivität ist es vorbei – von Tunesien und Ägypten
über Griechenland und Spanien bis nach New York, Oakland, Seattle und
Portland. Heute stellt sich die Aufgabe, alles dafür zu tun, diesen
point of no return zu erreichen, an dem die Verhältnisse danach
schreien: „Wir haben die Chance, die Welt zu verändern – ergreifen wir
sie!“
Quelle: FAU
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