WanderarbeiterInnen in China: Das Ende der großen Solidarität
"Die große Solidarität des Volkes lebe 10.000 Jahre!" steht auf dem Tor
des Himmlischen Friedens, dem Südeingang zur Verbotenen Stadt. Verboten
ist der Zutritt zu dem chinesischen Kaiserpalast schon seit dem Jahr
1924 nicht mehr. Aber der Eintrittspreis in Höhe von 60 Renminbi Yuan,
umgerechnet 5.40 Euro, ist für gut ein Drittel der Einwohner von
Beijing unerschwinglich. Die Rede ist von einem großen Teil der nach
offiziellen Schätzungen 5,1 Millionen Wanderarbeiter, die in Beijing
leben. Ihre Zahl wird anhand der Fahrkartenverkäufe anlässlich des
traditionellen chinesischen Frühjahrsfestes geschätzt. Dann fahren die
Wanderarbeiter in ihren einzigen, einwöchigen Urlaub. Vielleicht sind
es auch drei Millionen mehr: Schließlich wird sich ein Teil von ihnen
nicht nur den Eintritt in die Verbotene Stadt, sondern auch die
Heimfahrt mit den obligatorischen Geschenken für die gesamte
Verwandtschaft nicht leisten können.
Die U-Bahn-Linie 1 fährt in gut 40 Minuten vom Tor des Himmlischen
Friedens in westlicher Richtung bis zur Endhaltestelle Pingguoyuan. Die
einfache Fahrt kostet drei Yuan. Wer von dort zu drei Yuan zehn Minuten
lang mit der Motorradrikscha fährt, befindet sich in einer Welt, wie
sie ferner der "großen Solidarität des Volkes" nicht sein könnte, im
Wanderarbeiterquartier Liuniangfu.
Rikschafahrer Zhang Fuquan erzählt, er habe heute Morgen Glück
gehabt. Die Polizei hat nicht registrierte Taxis aufgegriffen, ihn aber
in Ruhe gelassen. 600 Yuan hätte ihn das gekostet, weil es das zweite
Mal gewesen wäre. Beim dritten Mal wird die Motorradrikscha
konfisziert, mit der er den Lebensunterhalt für sich, seine Frau und
die vier Kinder verdient.
Seit zehn Jahren lebt Zhang Fuquan in Liuniangfu. Die ersten zwei Jahre
hat er Gemüse auf dem Markt hinter der U-Bahn-Station verkauft. Als der
Markt geschlossen wurde, kaufte er sich von seinen Ersparnissen eine
Motorradrikscha mit vier Fahrgastsitzen. Die fuhr er, bis sie 2005 von
der Polizei beschlagnahmt wurde. Seitdem fährt er eine kleine
zweisitzige Rikscha und hatte bisher Glück - bis auf das eine Mal. Drei
Yuan für eine Fahrt und dazu das Risiko, 600 Yuan zu verlieren, lohnt
sich das - alles in allem? Zhang Fuquans Antwort ist einfach: "Von
irgendwas muss ich ja leben. Es geht schon."
Sorgen macht sich Zhang Fuquan eher um die Ausbildung seiner Kinder.
Seine älteste Tochter Lisha ist 15. "Ich habe sie gerade erst von der
Schule genommen", sagt er und sieht plötzlich aus, als hätte ihm jemand
einen Vorwurf gemacht. "Wenn ich sie zu meinen Eltern schicke, damit
sie die weiterführende Schule besucht, gibt es Streit wegen ihrer
Lebenshaltungskosten", verteidigt er sich. "Sie soll nun irgendwo als
Hausmädchen anfangen." Die achtjährige Tochter Chunyan geht in eine
nahe gelegene Schule, auf die dritte Tochter, Zhang (vier Jahre alt),
und den Sohn Zhang Yifan (zwei Jahre alt) passt die Mutter auf. Zhang
Fuquan würde den Kindern gern eine gute Ausbildung ermöglichen - denn
nur wenn die Kinder in der Stadt Fuß fassen, können auch die Eltern
darauf hoffen, dauerhaft zu bleiben.
Aber Wanderarbeiterkinder dürfen die staatlichen Schulen nicht
besuchen. Seit 2005 besteht zwar die gesetzliche Möglichkeit dazu. Nur
zählen offizielle Regeln nicht viel, und die staatlichen Schulen in
Beijing wehren sich gegen Migrantenkinder, wo sie nur können. Denn die
Beijinger sind sich einig, dass "waidiren" (Menschen von außen) "meiyou
wenhua" (keine Kultur) oder "suzhi di" (ein niedriges Niveau) haben.
Sie befürchten, dass durch die Aufnahme von Wanderarbeiterkindern die
Quote der Kinder, die es auf gute Mittelschulen schaffen, sinken
könnte. Der Ruf der gesamten Schule wäre in Gefahr und das Einkommen
der Lehrer nicht mehr gesichert.
Deshalb bleibt den Kindern nur, sich an einer der illegalen
Privatschulen anzumelden. Diese bekommen vom Staat keinen Zuschuss und
kosten deshalb 450 Yuan pro Schuljahr. Dennoch sind sie erheblich
schlechter als die staatlichen Einrichtungen, denn es dürfen nur Lehrer
unterrichten, die in offiziellen Schulen keine Anstellung bekommen
haben. Wer hier lehrt, tut das nur so lange, bis sich anderweitig eine
besser bezahlte Tätigkeit findet. "Alle drei bis vier Monate hat
Chunyan neue Lehrer", sagt Zhang Fuquan.
Sorgen macht dem Rikschafahrer auch seine Wohnungsmiete. Gerade ist sie
von 200 auf 280 Yuan (rund 25 Euro) im Monat gestiegen, ein hoher Preis
für zwölf Quadratmeter. Der einzige Raum bietet Platz für zwei große
Betten, einen Haufen Gerümpel, alte Zeitungen, einen Wok, einige
Nahrungsmittel, einen kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher und ein
ferngesteuertes Rennauto. Ohne Fernbedienung, denn es stammt aus einer
Mülltonne. Immerhin rollt es noch. Es ist das einzige Spielzeug der
vier Kinder.
Die Preiserhöhung ist eine Folge des Beijinger Baubooms. Von Süden her
sind die zwanzigstöckigen Wohnhäuser schon bedrohlich nahe an
Liuniangfu herangerückt. Dort kostet die Monatsmiete mindestens 2.300
Yuan, umgerechnet 208 Euro. Nicht zu bezahlen für die, die hier leben.
Manche vermuten, die Regierung versuchte auf diese Weise, die Zahl der
Wanderarbeiter vor den Olympischen Spielen etwas zu reduzieren. Ohne
Aufsehen oder Gesetze, die Aufsehen erregen oder Protest erzeugen
könnten - nur mit dem Gesetz des Marktes. Spätestens nach den Spielen
ist ohnehin Schluss. Im Norden von Liuniangfu liegen ein paar Berge,
und der große Badachu-Park ist nicht weit: Hier wird ein Villenviertel
entstehen.
Käme es für Zhang Fuquan in Betracht zurückzukehren? "Das geht nicht",
sagt er. Seine alte Heimat ist Nanyang, eine Region in der Provinz
Henan, die dafür bekannt ist, dass die dortige Regierung Polizeikräfte
aussendet, um widerrechtlich enteignete Bauern vor der im Süden
Beijings gelegenen Petitionsstelle aufzugreifen und in ein nahe
gelegenes privates Gefängnis zu schaffen. Dort werden sie so lange
festgehalten, bis sie von einer Beschwerde absehen. In letzter Zeit
soll die Nanyanger Verwaltung sogar anderen Lokalregierungen angeboten
haben, sich auch um deren Bauern zu kümmern, wenn diese in Beijing
auftauchen - gegen Bezahlung natürlich.
Das ist aber nicht der Grund, warum Zhang Fuquan bleiben will. "Durch
mein Bein bin ich behindert. Ich kann nun einmal nicht mehr auf einem
Feld arbeiten", sagt er. "Außerdem würde uns das Haus abgerissen, wenn
wir mit vier Kindern zurückkämen. Wenn jemand gegen die Geburtenplanung
verstößt, sucht die Dorfregierung ein paar Parteimitglieder, und die
reißen einem das Haus ab. Das ist ganz normal." Zhang sagt das mit so
ruhigem Gesicht, als wäre es die gewöhnlichste Sache auf der Welt.
Die Schule seiner Tochter Chunyan liegt nur fünf Minuten entfernt.
Direktorin Zhang Shuhua empfängt in ihrem Büro, das fast so
unordentlich ist wie das Zimmer der Familie Zhang. Stolz beginnt sie zu
erzählen: Nach ihrer Pensionierung 1995 sei sie nach Beijing gekommen,
damals erst 55 Jahre alt, und habe ein Jahr später "aus Mitleid" diese
Schule gegründet. Anfangs hatte sie nur einen einzigen Raum und
unterrichtete allein. Mittlerweile habe die Schule zwölf Lehrer, 142
Schüler und verfüge sogar über einen Sportplatz, der früher mit vier
Tischtennisplatten ausgestattet war. Bis sich ein Nachbar darüber
beschwerte, dass immer Bälle über die Mauer geflogen kamen und die
Tischtennisplatten abgerissen werden mussten.
Noch mehr als über diesen Nachbarn ärgert sich die Direktorin über die
anderen drei Schulen für die Kinder von Wanderarbeitern, die seither
eröffnet wurden. "Die versuchen nur, schnelles Geld zu machen und mir
die Schüler abzuwerben", sagt Zhang und erläutert, wie das geht: Das
lokale Schulamt habe die Schulgebühren auf 450 Yuan festgesetzt, aber
die anderen Schulen böten versteckte Preissenkungen, beispielsweise das
dritte Kind einer Familie kostenlos zu unterrichten oder eine Woche
eher mit dem Unterricht zu beginnen. Sie schickten Lehrer im Viertel
herum, um Lügen über ihre Schule zu verbreiten und gäben den Kindern
fast immer die volle Punktzahl, um die Eltern zu täuschen.
So sind aus den Schulen für Migranten konkurrierende
Wirtschaftsunternehmen geworden. Dasselbe gilt für die Agenturen zur
Vermittlung von Hausmädchen, die der kommunistische Frauenverband hier
einst aufbaute: Mittlerweile arbeiten sie gewinnorientiert, und den
vermittelten Haushaltshilfen wird ein Viertel ihres Gehalts als
Vermittlungsgebühr abgezogen.
Fährt man von dem Solidarität verheißenden Tor des Himmlischen
Friedens in die entgegengesetzte Richtung, nach Nordosten, führt der
Weg nach zwei bis drei Stunden vorbei an riesigen Markthallen, wo
Schnittblumen, landwirtschaftliche Erzeugnisse, tiefgekühlter Fisch,
Metallwaren, Baumaterial und Kleider feilgeboten werden, auf einem
Antikmarkt kann man Porzellanvasen erstehen. Dann folgt ein
schmiedeeiserner Bogen, der den Eingang zum Dorf Shangezhuang markiert.
Auch die Endhaltstelle des Stadtbusses 476 befindet sich hier. Früher
war Shangezhuang ein Dorf mit rund 2.400 Bauern. Heute ist es eine
Wanderarbeitersiedlung mit über 50.000 Einwohnern - erst im vergangenen
Jahr ist die Einwohnerzahl derart gestiegen, nachdem die nahe gelegenen
Wanderarbeiterquartiere Taiyanggong, Laiguangying und Donghu geräumt
worden sind. Sie lagen zu nahe am Fünften Stadtring, und die Regierung
wollte vermeiden, dass Olympiagäste, die sich hierher verirren könnten,
einen schlechten Eindruck gewinnen.
Nahe der Bushaltestelle stehen zweistöckige Häuser, die an besonders
erfolgreiche Wanderarbeiter vermietet werden. Fünf Minuten Fußweg
weiter sind die Häuser nur noch ein Stockwerk hoch - lang gestreckte
Bauten und Höfe mit gut 20 Türen auf jeder Seite. Hinter jeder Tür
wohnt eine Familie mit mindestens drei Mitgliedern, meistens mehr. Noch
einmal fünf Minuten Fußweg weiter beginnt schon der Randbezirk. Hier
haben die langfristigen Pächter - die alteingesessenen, ehemaligen
Bauern von Beijing - nur den Grund und Boden vermietet, die Häuser, die
darauf stehen, wurden von den Wanderarbeitern selbst gebaut. Es sind
kleine Verschläge, die sich an Mauern oder aneinander zu lehnen
scheinen. Strom und Wasser sind vorhanden, doch die Leitungen sind
schlecht verlegt. Toiletten und Müllbeseitigung funktionieren nicht
immer. 200 Meter vor dem Ende des Dorfes, wo große Bagger gerade dabei
sind, den Platz für die nächsten Häuser zu ebnen, wohnt die Familie Li.
"Huanjing Guanglin" (Herzlich willkommen), sagt die
vierjährige Li Nan und klatscht in die Händchen. Dann holt sie aus dem
Zimmer, das zugleich der einzige Raum der fünfköpfigen Familie ist,
einen kleinen Plastikhocker, knallt ihn ihrem kleinen Bruder auf die
Füße und bittet höflich, Platz zu nehmen. "Vor zwei Jahren", sagt ihre
Mutter Yang Yan, gegen das Schmerzgeschrei des zweijährigen Li Rui
ankämpfend, "hat Nan plötzlich Fieber bekommen. Hohes Fieber. Im
Krankenhaus wurde eine Gehirnhautentzündung festgestellt. Zwei Monate
musste Nan stationär behandelt werden. Das hat 50.000 Yuan gekostet."
Umgerechnet 4.500 Euro, die Ersparnisse der gesamten Familie.
Als sie einen Monat später einen Rückfall erlitt, hatte die Familie
kein Geld mehr, um die Behandlung fortzusetzen. "Am Anfang ging es Nana
sehr schlecht. Sie konnte kaum die Augen öffnen", berichtet die Mutter.
"Jetzt ist es schon besser. Sie spricht ein wenig. Aber immer knallt
sie alle Sachen so hin." Manchmal fesselt sie der behinderten Tochter
deshalb die Hände.
Eine Krankenversicherung hatte die Familie Li nicht. Aber im Heimatdorf
ihres Mannes erlaubte ein Beamter, rückwirkend eine Versicherung für
zehn Yuan im Monat abzuschließen. Sie bekam 4.000 Yuan sofort
ausbezahlt. Mehr ging nicht. Denn die Quote, die erstattet wird, sinkt
mit der Entfernung vom Wohnort: von 40 Prozent in der Kreisstadt über
20 Prozent in der Provinzhauptstadt bis zu acht Prozent in der
Landeshauptstadt. "Die Kinder werden hier dauernd krank", sagt Yang
Yan. "Jeden Monat muss ein Kind zur Infusion. Jedes Mal kostet das 145
Yuan."
Woher die Krankheiten kommen? Das weiß sie nicht. Aber neben dem
Wasserhahn steht eine übel riechende Pfütze, in der Müll fault, und von
der nahen Baustelle wehen Staub und Rußgestank herüber. "Zu Hause in
Henan ist es besser", sagt Yang Yan: "Die Umwelt ist sauberer. Wir
haben ein richtiges Haus. Aber das Feld ist zu klein, um alle zu
ernähren."
Deshalb kommt auch für sie und ihre Familie eine Rückkehr nicht
infrage. Ihr Mann radelt jeden Tag mit einem Lastfahrrad durch Beijing
und sammelt Plastikflaschen, Pappe, Glas oder Metallteile aus den
Mülleimern. Manchmal kauft er auch alte Waschmaschinen, Kühlschränke,
Computer oder was er sonst findet, und schlachtet sie aus. Sein
Einkommen wechselt je nach Tagesglück. Durchschnittlich liegt es bei
etwa 900 Yuan (80 Euro) im Monat, schätzt er.
So willkommen wie bei der Familie Li ist man nicht bei allen
in Shangezhuang. "Keine Fotos machen", mahnt Lulu Yang, eine
Sozialarbeiterin, die hier lebt. Gerade findet in dem Dorf mit seinen
2.400 gemeldeten Einwohnern eine Wahl statt - die ebenfalls hier
ansässigen 50.000 Wanderarbeiter haben kein Stimmrecht, eine etwas
heikle Angelegenheit.
Lulu Yang ist 24 Jahre alt und trägt ein Che-Guevara-T-Shirt, weil sie
den Revolutionär "sehr gerne hat", seitdem sie ein Theaterstück über
ihn sah. Hier denken viele, es sei ein Bild des Musterkommunisten Lei
Feng, den die Partei während der Kulturrevolution als Ersten der "neuen
Menschen" der neuen Zeit gefeiert hat. Die Sozialarbeit hat sie jedoch
weder aus Che Guevaras Büchern noch aus dem angeblichen Tagebuch von
Lei Feng gelernt, sondern als Hausmädchen bei einer Beijinger
Professorin. Bisher hat sie vor allem Daten erhoben und mit einer der
Wanderarbeiterschulen zusammen gearbeitet. Die Lehrer dort, sagt sie,
seien schlecht. Wenn die Kinder nicht gehorchen, würden sie geschlagen
oder mit dem Satz eingeschüchtert: "Ihr werdet so enden wie eure Eltern
- als Wächter, Straßenkehrer oder Müllsammler."
Lulu Yang hofft, über die Schulkinder auch deren Eltern erreichen zu
können. Die Ausbildung liege allen am Herzen - für Wanderarbeiter ohne
Rentenversicherung sind Kinder, vor allem Söhne, die einzige
Altersvorsorge. Lulu Yang, die für ein von Oxfam Hongkong gefördertes
Projekt arbeitet, hat in verschiedenen Beijinger Zeitungen zur Spende
von Büchern für eine kleine Schulbibliothek aufgerufen. Viele Bücher
bekam sie nicht - ein paar zerfledderte Zeitschriften, ein paar
klassische Romane, die im Chinesisch der Ming-Dynastie geschrieben
sind, ein altes russisch-chinesisches Wörterbuch, die chinesische
Übersetzung von Der beste Weg zum Glück für die Dame
von einer Frau Carnegie, fünf englischsprachige Exemplare einer
Unesco-Studie über Geschlechterverhältnisse und Rechtsfragen unter
chinesischen Wanderarbeitern, offenbar die Spende einer NGO. Insgesamt
300 Bücher maximal.
Der Direktor der Schule ist gekommen, obwohl er laut eigenem Bekunden
nichts von der Idee hält, Bücher an Wanderarbeiter oder deren Kinder
auszuleihen. "Die ziehen um, wie sollen wir dann die Bücher
wiederbekommen? "Arme Menschen", ruft er, "sind am allerwenigsten
solidarisch", und macht eine hilflose Geste. Doch Lulu verteilt
ungerührt ihre Bibliothekskarten an die Kinder. Ihr eigentliches Ziel
ist, zu erreichen, dass die alteingesessene Beijinger Bevölkerung die
Wanderarbeiter eines Tages nicht mehr als Menschen zweiter Klasse
betrachtet. Und dass sich die Wanderarbeiter hier, in ihrer neuen
Heimat, so verhalten wie zu Hause, in ihren Dörfern.
Niemand will zurück. Und doch leben alle so, als müssten sie schon
morgen umziehen: Die Wohnungen sind ein einziges Chaos, der Müll landet
auf der Straße. Kontakte pflegt man nur mit der eigenen Familie oder
mit Migranten aus demselben Dorf. Eine langfristige Perspektive und ein
Bleiberecht könnten das ändern, hofft Lulu.
Bis dahin wird sie noch viel zu tun haben. Wer 20 Zentimeter
kleiner ist, ein braungebranntes, breites Gesicht hat und nur Dialekt
spricht, kann in Beijing keine Gleichberechtigung erwarten. Die
Einführung von Wohnberechtigungen (den so genannten "hukou") nach der
Gründung der Volksrepublik hat die Chinesen offiziell in Stadt- und
Landmenschen geteilt, und diese Ungleichbehandlung führte in den
vergangenen Jahrzehnten dazu, dass in China mittlerweile zwei
Bevölkerungsgruppen leben.
Stadtmenschen hatten bis zur Abschaffung der Lebensmittelkarten Anrecht
auf mehr Nahrungsmittel und bis zur Einführung der "sozialistischen
Marktwirtschaft" einen gesicherten Arbeitsplatz. Bis heute wird die
offizielle Arbeitslosenquote nur anhand der Stadtmenschen berechnet.
Sie haben bessere Bildungschancen - und wer sich um eine feste
Anstellung bei Beijinger Behörden oder bei Unternehmen bewirbt, braucht
immer noch einen städtischen "hukou". Für derartige Arbeitsplätze
kommen Landmenschen mit ihrer schlechten formalen Bildung ohnehin nicht
infrage. Gemischte Ehen waren zwar immer erlaubt. Aber welcher Städter,
welche Städterin wäre je so dumm gewesen, jemanden vom Land zu
heiraten, wenn das gemeinsame Kind dann die Grundschule in einem Dorf
besuchen müsste? Diese Bestimmung wurde erst vor zwei Jahren
aufgehoben.
Dank dieser Trennung und dem riesigen Angebot an billigen Arbeitkräften
geht es der Stadtbevölkerung von Beijing nicht schlecht. Viele
alteingesessene Beijinger bewohnen mittlerweile eine von
Wanderarbeitern gebaute Eigentumswohnung. Und bald werden sie diese mit
dem von Wanderarbeitern gebauten U-Bahn-Netz schneller erreichen
können. Zu Hause kommen sie kaum noch ohne die billigen Migranten aus:
Das Kind zur Schule bringen, die alte Mutter im Rollstuhl spazieren
schieben, den Platten am Fahrrad flicken, das Auto waschen, das Öl von
der Küchenabzugshaube abschrubben oder beim Wohnungsumzug die Möbel
schleppen - all das übernehmen die Wanderarbeiter für einen Stundenlohn
von sechs bis acht Yuan pro Stunde.
Und wie geht es den Wanderarbeiten? Die Familien Zhang und Li
wohnen ohne Vertrag zur Miete. Immerhin leben sie in Steinhäusern,
alles andere wäre im Winter auch zu kalt. Niemand leidet Hunger. Die
Nachbarn, die es nicht geschafft haben, sind wieder in ihre Dörfer
zurückgekehrt, wo sie noch ein Stück Land besaßen, so dass man keine
Bettler sieht. Es würde allerdings ohnehin niemand etwas spenden. Die
einzige Hoffnung für Menschen in Not ist, dass Familienangehörige ihnen
etwas leihen. Sie zahlen an die Regierung keine Steuern, haben von ihr
aber auch nichts zu erwarten: Nicht einmal Polizei ist präsent.
Bedroht fühlen sich Zhang Fuquan und Yang Yan aber trotz allem nicht.
Wenn man von den Banden absieht, die Velos verschieben, gibt es keine
organisierte Kriminalität. Illegale Drogen sind unbekannt, der am
Wegrand wachsende Hanf welkt vor sich hin. In Karaokebars, Duschcentern
oder Friseursalons ist zwar die illegale Prostitution verbreitet, aber
ein Großteil der jungen Frauen geht nach zwei oder drei Jahren zurück
in ihr Dorf, um zu heiraten oder für die Familie ein Haus zu bauen.
Soziale Unruhen entstehen meist nur dann, wenn vereinbarte Löhne nicht
gezahlt werden. Das betrifft jedoch weder Zhang Fuquan noch Yang Yans
Ehemann, da beide "selbstständig" sind. Nicht einmal bei der Räumung
von Laiguangying und Donghu gab es organisierte Proteste. Es wird auch
in Liuniangfu keine geben.
Gemessen an den Verhältnissen, in denen die Beijinger Stadtbevölkerung
lebt, geht es den Wanderarbeitern schlecht. Aber in ihren Augen ist der
Maßstab nicht Beijing, sondern ihre alte Heimat - wo der
Grundwasserspiegel auf über 300 Meter Tiefe abgesackt ist. Wo immer
jemand direkt neben dem Transformator des Dorfes wohnen muss, da dieser
sonst sofort gestohlen würde. Wo widerrechtlich enteignet wird. Wo das
Pro-Kopf-Einkommen 2.000 Yuan (180 Euro) im Jahr nicht übersteigt und
die Bauern außerhalb der Erntezeiten wochen- oder monatelang kein Geld
in die Hände bekommen, während die rund 40 staatlichen Fernsehkanäle
hauptsächlich Werbung senden. Die Wanderarbeiter sind des Geldes wegen
gekommen. Mehr erwarten sie nicht.
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