IRAN: "Man hat vor niemandem mehr Angst" - Interview mit einem Iranischen Anarchisten über die Proteste im Land
1. Man sagt, dies seien die wichtigsten Demonstrationen seit der Revolution von 1979... Sehen Sie eine Kontinuität zwischen den Protesten von damals und heute?
Ja,
es ist richtig, dass diese Mobilisierungen oder Demonstrationen die
grössten und wichtigsten seit der Revolution von 1979 sind. In der Tat
begann es damals genau so wie heute.
Der Schah, ein Diktator
und Marionette des US-Imperialismus, beging den Fehler, keine Kritik an
seiner Herrschaft zu dulden, und das Volk, das seine langjährige
repressive Regierungszeit satt hatte, erhob sich endlich und schickte
ihn auf den Müllhaufen der Geschichte.
Ebenso gibt es eine
Kontinuität zwischen den Ereignissen von 1979 und heute, denn die
Revolution, oder besser gesagt der Aufstand von damals - in Wahrheit
war es keine soziale, sondern eine politische Revolution, ein blosser
Wechsel von einer monarchischen zu einer theokratischen Herrschaft -,
wurde von den Mullahs (Religionsgelehrte) mit Ajatollah Khomeini an der
Spitze in Beschlag genommen, und es begann die Ära eines neuen
diktatorischen Regimes.
Unter solchen Umständen sehnt sich
das Volk nach der Freiheit wie nach Brot und Wasser - und es ist
bereit, dafür zu sterben. Vor allem die Jungen, da 65% der Iranischen
Gesellschaft jünger als 30 Jahre sind und genug davon haben, erniedrigt
und unterdrückt zu werden. Mehr noch, diese Bewegung, die bereits als
eine andere Revolution erscheint, die, so hoffe ich, jetzt weitergehen
wird, ist die Wiederaufnahme des Kampfes für die Verfassung von 1905,
der nie zu einem Ende kam. Die Freiheit, auch nur bloss in ihrer
bürgerlichen und begrenzten Form, ist etwas, dass die Iranische
Gesellschaft bis heute nicht kennt. Die demokratische Regierung von Dr.
Mosadegh dauerte lediglich zwei Jahre, von 1951 bis zum August 1953,
weil die US-amerikanische Regierung und die CIA sie stürzten, noch
bevor sie das gleiche mit derjenigen von Arbenz Gũzman in Guatemala
1954 taten.
2. Inwiefern glauben Sie, dass die aktuellen Mobilisierungen das theokratische Regime schwächen können?
Die
Antwort auf diese Frage ist nicht einfach. Alles hängt davon ab, bis zu
welchem Grad diese Mobilisierungen fortgeführt werden. Glücklicherweise
ist die Aura, die "Würde" der Mullahs, im Speziellen diejenige von
Khamenei, dem Nachfolger von Khomeini, angegriffen worden. Wir haben
bereits den Slogan "Stirb Khamenei" gehört, und gestern verbrannten sie
sein Bild auf der Zanjan-Strasse in Teheran. Dieses Zeichen ist sehr
wichtig. Man hat vor niemandem mehr Angst.
Schon fast ist der
Moment gekommen, in dem "die von unten es nicht mehr ertragen", wie
Lenin sagte, aber es fehlt noch ein Stück, damit "die von oben nicht
mehr regieren können". Heute habe ich gehört, dass in Qom, dem Vatikan
der Schiiiten, ein Bruch zwischen den hohen religiösen Führern
stattgefunden hat. Eine Fraktion gab die Order, die älteste Tochter von
Rafsandschani, einem der mächtigsten, reichsten und korruptesten
Ajatollahs, zu verhaften; er war zwischen 1989 und 97 Präsident; am
folgenden Tag, also heute, liessen sie die Tochter wieder frei.
Rafsandschani hat zwei wichtige Posten in der staatlichen Hierarchie
inne, einer davon ist der Vorsitz im Expertenrat, der den obersten
religiösen Führer, im Moment also Khamenei, wählen oder abberufen kann.
Somit ist es möglich, dass dieser Rat Khamenei abwählt, wenn
die Vorfälle und Mobilisierungen für einige Tage oder Wochen anhalten.
Was kommt danach? Es kann sein, dass der Rat eine Gruppe von acht
Personen an die Stelle eines obersten religiösen Führers setzt. Es gibt
bereits Gerüchte über diese Möglichkeit. Oder, im besten Fall, hört die
Bewegung nicht auf bis zur totalen Niederlage des theokratischen
Systems.
Vergessen wir nicht, dass diese Stimmung entstanden
ist, weil Khamenei den Fehler begangen hatte, die gefälschte Wahl im
letzten Freitagsgebet abzusegnen. Aus diesem Grund ist es sehr
unwahrscheinlich, dass er einen Rückzieher macht oder dass die
Bevölkerung eine allfällige Entschuldigung annehmen würde. Aber das
letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Die Bourgeoisie und die
religiösen Anführer können auf dem Rücken des Volkes zu einer Einigung
kommen und die Situation zu beruhigen suchen. Ich sehe dies jedoch als
schwierig an.
3. Welche Rolle haben die ArbeiterInnen bis jetzt in diesen Mobilisierungen gespielt? Gibt es eine Möglichkeit, dass der Protest sich im Interesse der arbeitenden Klassen entwickeln könnte?
Freilich hat es innerhalb dieser
Mobilisierungen ArbeiterInnen aus verschiedenen Sektoren: Handel und
Dienstleistung; aus dem informellen Sektor; Selbstständige,
Marginalisierte und Arbeitslose. Wir müssen uns in Erinnerung rufen,
dass 25-35 % der Bevölkerung ohne Arbeit sind. Abwesend sind jedoch die
ArbeiterInnen aus dem wichtigsten Sektor, nämlich aus der Öl- und
Petrochemie-Industrie, die hauptsächlich im Süden des Landes in der
Nähe des Persischen Golfes beheimatet ist. Der Tag, an dem diese
ArbeiterInnen innehalten und in den Generalstreik treten, bedeutet der
Erfolg der Revolution, oder, besser gesagt, die vollständige Niederlage
des theokratischen Regimes. Damit diese Bewegung für die Interessen des
Proletariats eintritt, müssen sich die ArbeiterInnen dieses Sektors
daran beteiligen und die Initiative darin übernehmen.
4. Man betont fortwährend die Mobilisierung der Opposition, aber sicherlich haben auch die Anhänger von Ahmadinejad in grosser Zahl mobilisieren können - vielleicht sogar noch stärker als jene (was aus offensichtlichen Gründen von der westlichen Presse ignoriert wird). Was treibt die Anhänger des Iranischen Regimes auf die Strasse?
Erstens,
die Anhänger des Regimes von Ahmadinejad sind nicht zahlreicher als
diejenige der Opposition. In Wirklichkeit war das Resultat der
Präsidentschaftswahlen das folgende: Moussavi bekam etwas mehr als 19
Millionen Stimmen, Karrobi, der andere "Reformer", 13 Millionen,
Rezaie, politisch Ahmadinejad nahestehend, wenn auch ein wenig
"moderater", 3 Millionen, und Ahmadinejad selbst etwas mehr als 5
Millionen. Die Anzahl ungültiger Stimmen belief sich auf rund
anderthalb Millionen.
Die Anhänger von Ahmadinejad kommen
hauptsächlich aus ärmeren Bevölkerungsschichten, die einen Betrag von
$50 und Chipstüten erhielten. Ebenso aus Pensionärskreisen, die just
einige Tage vor den Wahlen einen hohen staatlichen Zuschuss für ihre
Renten bekamen: vorher waren es $200, nun $600. Und vergessen wir
nicht, dass dieses Regime über drei bis fünf Millionen junge Bassiji
verfügt, eine paramilitärische Miliz, vergleichbar mit der Falange von
Franco, und die ihre Mitglieder hauptsächlich aus den unteren Schichten
rekrutiert. Dazu kommen noch deren Familien, die wegen einer
monatlichen finanziellen Zuwendung grundsätzlich hinter dem Regime
stehen. Aber es gibt auch eine geringe Zahl an StudentInnen, die
während der Wahlkampagne diesen Bonus von $50 ebenfalls erhielt.
Ich
nehme an, dass es ebenso einige Kreise im unteren Mittelstand gibt, die
Ahmadinejad gewählt haben, da dieser während seines Wahlkampfes ein
paar Namen von korrupten, in Mafiastrukturen verwickelten Politikern
genannt hatte (u.a. Rafsandschani).
5. Gibt es einen Klassenunterschied zwischen der einen und der anderen Seite? Wir stellen diese Frage, weil bei Ermangelung einer gefestigten und klaren revolutionären Alternative die ArbeiterInnenklasse und die Armen im Allgemeinen gewöhnlich für konservative Anliegen eintreten...
Es
gibt keine grossen Differenzen zwischen den Parteien der Mächtigen.
Alle sind Teil der Bourgeoisie. Niemand "repräsentiert" den
Mittelstand, die unteren Schichten oder das Proletariat. In
ökonomischer Hinsicht sind alle beteiligten Parteien für den
Neoliberalismus, für Privatisierungen und für eine Politik im Sinne der
Welthandelsorganisation - mit minimalen Differenzen hinsichtlich der
staatlichen Zuwendungen an die Armen. Die einen wollen ihnen monatlich
etwas mehr Geld geben, die anderen wollen diese Hilfen via
Preissenkungen beim Brot, beim öffentlichen Verkehr und bei den
Versicherungsprämien gewähren.
Politisch betrachtet will die
Opposition allerdings einen demokratischen Eindruck machen: sie steht
ein für Redefreiheit, ist gegen die Zensurierung oder Unterbindung von
regierungskritischen Publikationen, lehnt die Todesstrafe für
Minderjährige ab, will den Frauen im öffentlichen Sektor mehr Chancen
bieten, wehrt sich gegen die Inhaftierung von radikalen StudentInnen,
ist für mehr Frauenrechte bei Scheidungen usw.
6. Auffallend sind die gemässigten Worte von Obama vor den Mobilisierungen - eine Zurückhaltung, die mit den Hurra-Parolen von Bush und der CIA während den Demonstrationen von Beirut und Kiew vor ein paar Jahren kontrastiert... Von woher rührt diese vorsichtige Haltung?
Die
Position von Obama ist sehr diplomatisch. Die US-amerikanischen
ImperialistInnen wissen sehr genau, dass der Iran nicht mit dem Irak,
Afghanistan oder Pakistan vergleichbar ist; noch ist er mit Beirut oder
Kiew gleichzusetzen. Es gibt keine Möglichkeit für sie, im Iran zu
intervenieren; nicht einmal während der Regierung Bush gab es Pläne für
ein Vorgehen analog zur Invasion im Irak, geschweige denn jetzt, wo die
Dinge so bewegt sind. Sie können die momentane Situation im Iran nicht
gefährden.
Sie wollen keine Verschlechterung der Lage, weil
es letzten Endes besser ist, jemanden an der Macht zu haben, der den
Ausfuhr des Erdöls aus der Region nicht gefährdet... Obama weiss, dass
die Mullahs davon gesprochen haben, dass die "EU, Grossbritannien,
Frankreich, Deutschland im Iran intervenieren...", um nicht nur die
öffentliche Meinung im Iran, sondern weltweit abzulenken. Deswegen
sagte Obama, dass er nicht wolle, dass man den Eindruck habe, die EU
mische sich in die inneren Angelegenheiten des Landes ein. Aber schon
gestern schob er, um die Konservativen zu befriedigen, folgende
Erklärung nach: "Die Iranische Regierung darf ihre politischen Gegner
nicht unterdrücken, sie darf nicht so gewalttätig vorgehen..."
Ausserdem
haben die Mullahs den US-AmerikanerInnen in grossem Ausmass geholfen,
die Situation im Irak und in Afghanistan zu "stabilisieren". In anderen
Worten sind ihre Interessen oftmals mit den geopolitischen Ambitionen
des US-Imperialismus deckungsgleich. Es ist besser, diese delikate
Situation nicht zu gefährden. So betrachtet ist Obama wegen den
hegemonialen Interessen des US-Imperialismus die beste Karte, auf die
sie setzen können. Bush und seine Politik sind bereits Geschichte,
temps passé.
Auf seiner letzten Reise in den Nahen Osten
hielt Obama eine Rede an der Universität von Kairo, in der er
versuchte, einen pro-islamischen und der arabischen Welt nicht allzu
feindlich gesinnten Eindruck zu hinterlassen. Auch besuchte er den
Saudischen König und seine zionistischen Verbündeten in Israel. Alles
deutet darauf hin, dass er ein konsens- und nicht
konfrontationsorientiertes Bild vermitteln will. Obwohl diese Politik
aus seiner Sicht im Allgemeinen durchaus vernünftig ist, wird sie in
strategischer Hinsicht in der Region nicht aufgehen, denn man vergass
wie immer, den PalästinenserInnen im Konflikt mit Israel substantielle
Zugeständnisse zu machen.
7. Wie denken Sie wird die momentane Situation im Iran ausgehen? Können sich die fortschrittlichen Kräfte irgend etwas von dieser Opposition erhoffen oder ist es notwendig eine wirkliche Alternative zu schaffen?
Die
fortschrittlichen Kräfte können oder dürfen nicht auf die existierende
Opposition hoffen. Erstens ist sie nicht laizistisch; sie ist islamisch
und für die islamische Verfassung. Sie ist nicht gegen die Person des
"Velayate Faghie", also des obersten religiösen Führers. Sie will nur
politische Einflussmöglichkeiten in den Grenzen der Verfassung der
Islamischen Republik haben, mehr nicht. Und weil die
ArbeiterInnenbewegung überhaupt nicht stark ist - denn wir haben keine
Gewerkschaften, die nicht vom Staat kontrolliert werden -, können die
Fortschrittlichen diese Gelegenheit nur nutzen, um ein weniger
repressives Umfeld zu schaffen - ein Umfeld, das ein wenig freier zum
Atmen ist und in dem sich anti-kapitalistische Ziele und langfristige
Kampfstrategien organisieren und entwickeln lassen.
Die
ArbeiterInnen, die Jungen, die Frauen, die Marginalisierten und die
Arbeitslosen müssen ihre Allianzen Schritt für Schritt schmieden; sie
müssen Affinitätsgruppen, Organisationen, Versammlungen und Räte
schaffen, und dann ihre Pläne für die endgültige Befreiung erarbeiten:
Zerstörung des Staates, Abschaffung des Kapitals und die Reinigung des
Geistes von aller Religion und Aberglauben. Dies wird der Tag des
Feierns sein.
[Quelle in Spanisch: http://www.alasbarricadas.org/noticias/?q=node/11031]
[Übersetzt aus dem Spanischen]
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wir haben das Interview von der Seite der Libertären Aktion Winterthur
Weitere Links zum Thema:
Labournet:
http://labournet.de/internationales/iran/index.html
http://labournet.de/internationales/iran/gewerkschaft.html
englischsprachige Links:
Solidaritätsaufruf der CNT-IAA Paris http://cnt-ait.info/article.php3?id_article=1694
Statement der Iranischen Busfahrergewerkschaft http://libcom.org/library/iranian-bus-workers%E2%80%99-statement-demonstrations
Artikel eines iranischem Anarcho-Kommunisten (WSM Ireland) http://www.anarkismo.net/article/13493
Interview über iranische Gewerkschaften und den unabhängigen Freiheitskampf der Bevölkerung http://therealnews.com/t/index.php?option=com_content&task=view&id=31&Itemid=74&jumival=3929
Interview mit iranischem Anarchisten (2005) http://www.ainfos.ca/05/may/ainfos00339.html
Links auf Farsi (Persisch)
Prinzipien der Internationalen Arbeiter/innen-Assoziation http://cnt-ait.info/IMG/html/iwa_statutes_farsi2.html
weitere anarchistische Texte http://cnt-ait.info/rubrique.php3?id_rubrique=97,
http://cnt-ait.info/rubrique.php3?id_rubrique=114
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