Kamerun: Dunkle Krawalle
Dies ist der Versuch, einen Streik zu verstehen, einen afrikanischen
Streik. Es ist auch der Versuch, die richtigen Worte zu finden für
soziale Kämpfe jenseits unserer vertrauten Maßstäbe.
Es war Ende Februar. In Kamerun verdüsterte vier Tage lang der
Rauch brennender Barrikaden den Himmel; die Welt nahm keine Notiz. Sie
merkte erst im Nachhinein auf, weil in Kamerun - nach Haiti -
anscheinend etwas begonnen hatte, was zum politischen Begriff der
Saison wurde: Hungerrevolten.
Eine Hungerrevolte hat keine Akteure, so will es das Wort - es
ist der Hunger selbst, der revoltiert. Er bemächtigt sich der Menschen,
lässt ihnen keine andere Wahl, als um sich zu schlagen. Ein
dramatisches, bebendes Wort; mitfühlend im ersten Moment - aber es
nimmt denen, auf die es gemünzt wird, leicht ihre Würde, macht sie zu
bloßen Opfern, zu Getriebenen auf dem primitivsten Niveau menschlichen
Aufbegehrens. Im Bild dann ein geläufiges Afrika: dunkle Gestalten
machen dunkle Krawalle.
Bewaffnet nur mit Mobiltelefonen
In Kamerun wurde nicht gehungert, als dort die vermeintliche
Hungerrevolte ausbrach. Alles begann beiläufig, täuschend beiläufig,
mit kleinen, zögerlichen Meldungen in den Zeitungen: In der Stadt
Douala würden die Taxifahrer gegen den hohen Benzinpreis streiken.
Douala ist Kameruns Wirtschaftsmetropole mit Heerscharen gut
ausgebildeter junger Leute ohne Job. Viele von ihnen fahren hilfsweise
ein Moped-Taxi - 42.000 Moped-Taxi-Fahrer soll es geben, eine Armee der
Wütenden und Frustrierten.
Am Montagmorgen beginnt der Streik - und atemberaubend schnell
wird aus dem simplen Akt, das eigene Transportmittel zu verweigern, der
erzwungene Stillstand nahezu des gesamten Landes. Aufruhr erfasst die
zehn größten Städte, die wichtigsten Überlandstraßen sind blockiert,
sogar der internationale Flughafen von Douala ist geschlossen. Die
Armee rückt aus, Kamerun befindet sich im Ausnahmezustand. Im Laufe der
nächsten Tage werden 44 öffentliche Gebäude verwüstet, Rathäuser,
Polizeikommissariate, Steuerbüros; Dutzende Tankstellen gehen in
Flammen auf. Was war passiert? Kamerun zählt nicht zu den ärmsten
Ländern Afrikas. Die einstige deutsche Kolonie ist reich an Rohstoffen,
doch heruntergewirtschaftet durch das korrupte Regime des Präsidenten
Paul Biya: Ein Schützling Frankreichs, er hält sich seit einem
Vierteljahrhundert an der Macht. Die meisten von Kameruns 17 Millionen
Einwohnern leiden, auch wenn sie nicht hungern. "La vie est chère", das
Leben ist teuer, es ist unbezahlbar geworden, der tägliche Stoßseufzer
im frankophonen Afrika. In Kamerun mischt sich in den Protest gegen die
hohen Lebenshaltungskosten, noch eine andere Wut, es ist die große,
lang gehegte Wut auf die raffgierige herrschende Klasse, auf ihren
Diebstahl am Volksvermögen.
Nicht etwa die Schlichtheit der Motive - Hunger! -, sondern
ihre Komplexität heizt die Militanz der Streikenden an. Zuviel hat sich
angestaut; frisch noch der Schmerz über die Niederlage der geliebten
Nationalelf, der "Unbezähmbaren Löwen", beim Afrikacup - ein erneuter
Beweis staatlichen Missmanagements! Und nun will der 75-jährige Paul
Biya auch noch die Verfassung ändern lassen, damit er erneut
kandidieren, damit er seine Macht verewigen kann.
Mehrere Transportgewerkschaften hatten den Streik ausgerufen;
sie blasen ihn ängstlich nach einem Tag ab - niemand hört darauf; sie
seien gekauft, bestochen, höhnen die jungen Männer an den Barrikaden.
Sie waren vom ersten Moment an die Protagonisten, ohne Organisation,
ohne Führung, ohne Sprecher, bewaffnet nur mit Mobiltelefonen. Ihre
Kampfform ist die einschüchternde Zusammenrottung an Kreuzungen, ihre
Waffe die latente Bereitschaft zur Gewalt. Nachdem die ersten privaten
Fahrzeuge demoliert wurden, geht ganz Kamerun zu Fuß. Niemand
definiert, was Streikbruch ist - vorsichtshalber schließen die meisten
Geschäfte. Was ist Angst, was ist Solidarität? Viele Kameruner
empfinden beides, in einer schwierigen Melange; sie fürchten Gewalt,
Chaos und Plünderungen und teilen doch die sozialen Motive der
Aufrührer.
Für kurze Zeit genießen die Protagonisten ein Gefühl der
Stärke; misstrauisch gegenüber allen Politikern wollen sie von
niemandem instrumentalisiert werden, fühlen sich als wahrer Vertreter
des Volksunmuts, als Gegenpol zur Regierung. In kleinen Trupps ziehen
Demonstranten über den zentralen Boulevard de la Liberté, rufen populäre Parolen: Nein zum teuren Leben! - Dem Land geht es schlecht! - Wir wollen Veränderung!
Die Regierung nimmt ihrerseits die Konfrontation sofort an. Ohne eine
abgestufte Taktik, ohne jegliche politische Idee werden Polizei, Armee,
Nationalgarde gegen die Streikenden eingesetzt; die Gattungen sind kaum
unterscheidbar in ihrer Montur. Bald wird scharf geschossen. Vieles aus
diesen Kameruner Februartagen ist typisch für die Eskalation sozialer
Kämpfe in Afrika. In Europa zielt ein Streik auf eine formell
strukturierte Wirtschaft mit organisierter Produktion, mit festen
Arbeitsplätzen und Arbeitszeiten. In Afrikas viel informellerer
Wirtschaft ist der Streik nur eine Initialzündung. Um Druck zu machen,
müssen die Streikenden schnell zulegen, müssen die Konfrontation
suchen.
Die Bevölkerung ist dabei zugleich Opfer, Akteur und Geisel.
Die meisten afrikanischen Haushalte wirtschaften von Tag zu Tag - im Nu
ist nichts mehr zu essen da, im Nu das Geld der Familie aufgebraucht.
So wird im Tagesrhythmus gelitten und gekämpft. Am Morgen ist unklar,
wie sich der Streik im Lauf des Tages entwickelt; am Abend rätseln
alle, ob der Ausstand am nächsten Tag noch andauern wird. Ein zähes,
leidvolles Warten; wie wenig Ungeduld dabei um sich greift, ist fast
unbegreiflich.
Minuten später brennt es wieder
Kein neutraler Vermittler betritt die Bühne. Kameruns
katholische Kirche, sonst stets die Korruption verurteilend, verurteilt
nun die Gewalt durch die Jungen und bleibt Zuschauer. Die Regierung ist
ohnehin nicht an Vermittlung interessiert. Und die Aufständischen haben
keine Struktur, keine Vertretung, die ihnen erlauben würde, eine
Politik der Vermittlung zu erzwingen.
Niemand, tatsächlich niemand hat einen Überblick. Im Fernsehen
nur Telefonberichte örtlicher Korrespondenten, ohne Bild. Eine private
Fernsehstation, die bei der revoltierenden Jugend Vertrauen genießt,
wird verboten, die Studios versiegelt - als wolle die Regierung noch
das letzte Kabel einer eventuellen Verständigung kappen. Aus dem Getöse
des Aufstands kristallisiert sich nur ein einziger Schrei heraus: Biya,
der Präsident, soll uns hören, soll zu uns sprechen!
Als der heisere alte Mann am Abend des dritten Streiktags
endlich im Fernsehen das Wort an sein Volk richtet, hockt ganz Kamerun
vor den Geräten. Biya spricht nur fünf Minuten, er beleidigt die
Aufständischen, nennt sie Banden, Delinquenten. Minuten später brennen
wieder die Barrikaden. Ein Zusammentreffen von Paternalismus und
Anarchie. Unter den älteren Kamerunern verbreitet sich nach der Rede
ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit; als seien sie verlassen worden. Biya
mag verhasst sein, aber er ist doch le père,
der Vater des Landes. Der Vater hat nicht wie ein Vater gesprochen.
Eine Kriegserklärung - das Wort geht von Mund zu Mund: Der Präsident
hat seinem Volk den Krieg erklärt. Demonstranten schreiben den Satz auf
Kartonfetzen.
An diesem letzten von vier unendlich langen Streiktagen
herrscht nur noch blanke Konfrontation: Hier die Masse der Bevölkerung,
die aus Überzeugung, aus Angst oder in schierer Verzweifelung passiv zu
den Aufständischen hält. Dort die Armee. Irgendwann in der nächsten
Nacht wird der Streik sterben, an Erschöpfung und Repression; ein
voraussehbarer Tod. Die kleinen Leute können die Last des
wirtschaftlichen Stillstands nicht länger tragen, nun wird wirklich
gehungert. Aber kein Medium, keine Gewerkschaft verfügt über genug
Glaubwürdigkeit, das Ende des Kampfs zu verkünden. Es zählt nur
persönlich verbürgte Zeugenschaft: Wer beobachtet, wie in Douala, im
Zentrum der Erhebung, die Taxifahrer wieder in ihre Autos steigen,
greift zum Mobiltelefon, gibt die Nachricht weiter an die Familie, an
Freunde. Nun erst ist alles wirklich vorbei.
Hatte der Streik ein politisches Ergebnis? Zunächst nur
dieses: 200 Tote nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen, 40 Tote
nach Angaben der Regierung. Rund 1.500 Bürger werden zu
Gefängnisstrafen verurteilt, Dutzende bleiben durch Gewehrkugeln
lebenslang behindert. Wofür dieser hohe Preis? Die Gehälter von 150.000
Staatsbediensteten werden erhöht - ein überfälliger Schritt, aber die
Staatsdiener hatten nicht gestreikt, sie profitieren nun von den Opfern
anderer. Noch in seinen Zugeständnissen zeigt das Regime seine
Verachtung. In Windeseile lässt Präsident Biya von einer gefügigen
Parlamentsmehrheit jene Verfassungsänderung absegnen, die seine Macht
verewigen kann. "Wie viel Blut wird fließen müssen, um diesen Mann
loszuwerden?", fragt ein junger Kameruner in einem Blog.
Dass ein Menschenleben in Afrika wenig zähle, ist ein oft
gehörter Satz; er macht schnelles Töten gleichsam zu einer
afrikanischen Eigenschaft, das Wort "Stammeskriege" ist dann meist
nicht weit. In Kamerun, einem Patchwork von mehr als 200 Volksgruppen,
hat sich die politische Frustration nicht in interethnischer Gewalt
entladen - trotz der Versuche des Regimes, die ethnische Karte zu
spielen und die Aufständischen in verschiedenen Regionen als Auswärtige
zu denunzieren, die Zerstörung und Unglück über die lokale
Mehrheits-Ethnie gebracht hätten. Der Kameruner Soziologe Nsame Mbongo
notiert, nun werde versucht, "im Volk die überethnische Solidarität,
die sich in den Ereignissen gezeigt hat, zu zerbrechen."
Nicht jeder afrikanische Streik "gegen das teure Leben" ist
eine Zündflamme zum Aufruhr. Burkina Faso sah sich zwei Tage im
Generalstreik. In Ägypten wiederum erstickte staatliche Repression den
Versuch zum Generalstreik, nachdem sich in der Textilarbeiterstadt
Mahalla Demonstranten und Polizei Straßenschlachten geliefert hatten.
So unterschiedlich die Lage und die Länder in Zentral-, West- und
Nordafrika: Der Begriff Hungerrevolte verkennt fast überall das
Bewusstsein und die Entschlossenheit der Beteiligten.
Letzte Meldungen aus Kamerun: In Douala werden Elitetruppen
stationiert; Geheimpolizei streunt durch die Wohnviertel. Lapiro de
Mbanga, ein bekannter Musiker, wird verhaftet, er hat ein Stück
geschrieben mit dem Titel: Ne touche pas à ma Constitution (Rühr´ meine Verfassung nicht an).
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