Dokumentation: Türkei: Widerstand gegen Reform der Sozialversicherung formiert sich neu. Zehntausende demonstrierten am Sonntag in Istanbul
Die mit dem Gesetzespaket geplanten Einschnitte sind so tief, daß bis
zum 14. März selbst der brave staatsnahe Gewerkschaftsbund Türk-Is mit
einem landesweiten Ausstand drohte. Eine drastische Anhebung der
Lebensarbeitszeit, deutlich schlechtere Leistungen der Krankenkassen,
weniger Rechte für Arbeiterinnen mit Kindern – so lauten nur einige
Eckpunkte der Reform, die für starken Protest der traditionell
gespaltenen türkischen Linken und Gewerkschaften sorgte.
Hinzu
kam, daß allzu offensichtlich weniger hausgemachte Sachzwänge als
vielmehr der Internationale Währungsfonds (IWF) der Grund für die
»Reform« ist. Denn daß der IWF als Gegenleistung für seine
milliardenschweren Finanzspritzen, die den stark defizitären türkischen
Staatshaushalt über Wasser halten, ein Abspecken des ohnehin nicht
gerade üppigen türkischen Sozialsystems fordert, ist bestens bekannt.
Weitere Kredite werden derzeit verhandelt. Die plötzliche Eile, mit der
das Gesetz jetzt auf den Tisch kam, ist für viele deshalb kein Zufall.
Ministerpräsident
Tayyip Erdogan, der bei den jüngsten Parlamentswahlen fast die Hälfte
der Stimmen erringen konnte, wähnte sich bislang stark genug, die
Reform auch gegen jeden Protest durchpeitschen zu können – bis zu eben
jenem 14. März, als das Verbotsverfahren gegen seine Partei eröffnet
wurde. Politische Turbulenzen plus Generalstreik konnten danach nicht
mehr riskiert werden – nur vier Tage später lud die Regierung die
Gewerkschaften deshalb zu Verhandlungen. Eine oberflächlich entschärfte
Fassung der Reform wurde präsentiert, Türk-Is schwenkte erwartungsgemäß
ein.
Friede, Freude, Eierkuchen – so bewerteten viele
Zeitungen den Kompromiß. Doch offensichtlich kann davon keine Rede
sein, denn der Widerstand formiert sich neu. So demonstrierten am
gestrigen Sonntag Zehntausende Gewerkschafter in Istanbul. »Der
Kompromiß, den Erdogan vorgelegt hat, ist faul«, erklärt Ali Cerkezoglu
vom Türkischen Ärztebund (TTB), der den Protest zusammen mit dem
Revolutionären Gewerkschaftsbund (DISK), zahlreichen weiteren
Einzelgewerkschaften und linken Parteien organisiert hat. Nach wie vor
soll bis zur Verrentung deutlich länger gearbeitet werden als bislang,
die gezahlten Renten bleiben »auf absurd niedrigem Niveau«, die
Zweiklassenmedizin wird weiter zementiert. »Erdogan glaubt, durch den
Kompromiß dafür gesorgt zu haben, die Reform ohne viel Aufhebens
durchbringen zu können«, so Cerkezoglu. »Aber da irrt er gewaltig. Der
Protest fängt gerade erst an.«
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