(aus dem FdA-IFA*) Communiqué der LAW**: Keine Solidarität mit den "anarchistischen" BriefbomberInnen
Quelle: 改道 改道] - gǎidào (einen anderen weg gehen) / Zeitung des FdA-IFA
Die Frage der Gewalt spielte im anarchistischen Diskurs schon immer
eine grosse Rolle. Wie sollte der urtümlichste und rohste Ausdruck von
Macht mit der Lehre der Herrschaftslosigkeit in Einklang gebracht
werden? Kann eine anarchistische, revolutionäre Strategie Gewalt
beinhalten? Es ist davon auszugehen, dass der libertäre Weg, der
immerhin die Enteignung der Besitzenden und die Überwindung materieller
Privilegien beinhaltet, auf brutalen Widerstand derjenigen stossen
wird, die sich diesen Gütern beraubt sehen. Ein Herrschaftsverhältnis
beruht immer auf (unscheinbarem oder offensichtlichem) Zwang. Und
dieser schliesst immer auch Gewalt ein, der wir nur als starke
revolutionäre Massenbewegung entgegentreten können.
Doch sollten
wir uns als bewusste Anarchistinnen und Anarchisten davor hüten, das
Mittel der Gewalt zum Zweck werden zu lassen. „Die wahre anarchistische
Gewalt hört auf, wo die Notwendigkeit der Verteidigung und der
Befreiung aufhört. Sie wird durch das Bewusstsein getragen, dass die
Individuen, einzeln betrachtet, wenig oder überhaupt nicht
verantwortlich sind für die Position, die Erbe und Umwelt ihnen
verschafft haben.“ Diese Worte vom italienischen Anarchisten Errico
Malatesta haben auch fast Hundert Jahre nach ihrer Niederschrift nichts
von ihrer Gültigkeit verloren. Sie verbieten es, im Rahmen einer
libertären Praxis FunktionsträgerInnen im Kapitalismus ihrer blossen
Funktion Willen zu verletzen oder gar zu töten. Wie wir meinen, sollte
das für jede Person mit einer anarchistischen Auffassung eine
Selbstverständlichkeit sein.
In den letzten Monaten haben sich
allerdings auch im Zusammenhang mit der Schweiz Ereignisse gehäuft, die
dieses libertäre Prinzip im Namen des Anarchismus in Frage stellen. Die
Rede ist hier nicht von den rhetorisch durchaus gelungenen, doch
inhaltlich oft verworrenen Aufrufen im Stile von „Schlagt die
Polizisten, wo ihr sie trefft“, die von irgendwelchen windigen
Revoltierenden als Akt des individuellen Widerstandes auf Mauern
geklebt und auf Websites veröffentlicht werden. Auch nicht gemeint sind
die zahlreichen, aber in ihrer Form sich treu bleibenden Schweizer
Solidaritätsaktionen für Billy, Costantino und Silvia, deren
antizivilisatorischen Ergüsse wir höchstens mit Belustigung zur
Kenntnis nehmen. Doch werden wohl auch aus eben diesen Zusammenhängen
diejenigen Aktionen beklatscht, die in ihren Folgen weit über das Mass
von Farbanschlägen und dem Aufschlitzen von Autoreifen hinausgehen.
Wir
denken an die Briefbomben, die in den vergangenen Monaten an diverse
staatliche Einrichtungen, insbesondere Botschaften, versandt wurden.
Darauf hoffend, dass dabei einE wichtigeR BeamteR beim Öffnen des
Briefs versehrt wird, sollte die Inhaftierung der drei Genannten
symbolisch „gerächt“ werden. Eine solche Praxis zeugt nicht nur von
politischer Dummheit, sondern auch von grosser Feigheit und
Inhumanität. Im besten Falle aus Naivität, im schlimmsten aus
Berechnung wurde ebenso in Kauf genommen, dass auch eine einfache
Zuträgerin oder ein subalterner Sekretär verletzt wird. Damit reihen
sich die AbsenderInnen ein in die lange Reihe von skrupellosen
VerbrecherInnen, die im Dienste des Kapitals Angehörige der
ArbeiterInnenklasse verfolgt und getötet haben. Diese Taten sind
mitnichten revolutionär, sondern Ausdruck der politischen Reaktion. Uns
bleibt angesichts der Infamie solcher Aktionen nur das Eine: Keine
Solidarität mit den „anarchistischen“ BriefbomberInnen – niemals, nie!
Es
ist tragisch, dass der europäischen KapitalistInnenklasse, die sich
noch vor wenigen Jahren linksradikale Gruppierungen schaffen musste, um
die Bevölkerung auf einen repressiven Kurs einzustimmen, das Spiel
heute so einfach gemacht wird.
Für uns alle ist es schwierig,
adäquat auf ein politisches und soziales Klima zu reagieren, dass uns
als ausgebeutete und mitfühlende Menschen in die Verzweiflung treiben
muss. Dies sollte aber nicht Anlass sein, uns in die alten Illusionen
der „Propaganda der Tat“ zu retten, und durch individuelle Gewaltakte
die Gesellschaft ändern zu wollen. Deren Folgen werden Repression,
Eskapismus und eine noch grössere Hoffnungslosigkeit sein, und nicht
der Aufstand der Massen. Ebenso falsch ist es, die Unstrukturiertheit
zum allgemeinen Handlungsprinzip von Anarchistinnen und Anarchisten zu
erheben, wie es von unseren „aufständischen“ Genossinnen und Genossen
gefordert wird. Ist jedeR nur sich selber verantwortlich, leistet das
individuellen unberechenbaren Aktionen Vorschub, anstatt einer
solidarischen Praxis, die stetig auf die soziale Revolution
hinarbeitet, zur Entfaltung zu verhelfen.
Nur gemeinsam, durch
organisierten und zielgerichteten Klassenkampf können wir dem
kapitalistischen System die Stirn bieten. Einigkeit in der Theorie und
Stringenz in der Praxis, föderalistische Strukturen und individuelle
Disziplin sind die Qualitäten von solidarisch kämpfenden Anarchistinnen
und Anarchisten, die tatsächlich die soziale Revolution – und nicht die
totale Repression – wollen. Der Arbeitsplatz und die Schule, die
Nachbarschaft und das Begegnungszentrum, die Strasse und das
Flüchtlingsheim: Dies sind die Plätze unserer libertären Agitation, der
Organisierung und des Kampfes - nicht die Spalten der bürgerlichen
Medien, die nur darauf warten, mit reisserischen Schlagzeilen über den
letzten Anschlag von Revoltierenden zu berichten.
Ende Dezember 2010
Libertäre Aktion Winterthur
*FdA-IFA = Forum deutschsprachiger AnarchistInnen - Internationale der anarchistischen Föderationen
**LAW = Libertäre Aktion Winterthur (CH)
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