„Big disturbance, big solution“ - Arbeiterunruhen in China
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Quantitative Entwicklung von Arbeitskämpfen und Unruhen in China.
Quellen: China Statistical Yearbook 1993-2008. Seit dem Jahr 2000
werden keine offiziellen Statistiken zu Massenunruhen mehr veröffentlicht.
Die Zahlen der Folgejahre sind von unabhängigen WissenschaftlerInnen
zusammengestellt oder geschätzt worden. In den städtischen
Staatsbetrieben wurde ab den 1980er Jahren die Verfügungsgewalt
des Managements gegenüber der Kontrolle der Parteiorgane und der
ArbeiterInnen stetig ausgeweitet, ab 1995 folgten die flächendeckende
Einführung von Arbeitsmärkten und eine großangelegte Privatisierungswelle.
Der Produktionsprozess wurde nun gänzlich nach Profitabilitätskriterien
umgestaltet, weshalb zwischen 1996 und 1999 jährlich sieben Millionen
StaatsarbeiterInnen ihre Jobs verloren.
Folgen der Privatisierungen
Auf dem Land wurde die maoistische Kollektivwirtschaft in Form von Volkskommunen durch eine Rückkehr zu kleinbäuerlichen Produktionsmethoden abgelöst, die auf der staatlichen Garantie haushaltsbezogener Landrechte beruhte. Mit der großangelegten Entwicklung ländlicher Industrieproduktion in den 1980er Jahren nahmen viele Bauern neue Jobs an, verloren jedoch ihre Landtitel nicht. Bis heute ist der typische ländliche Haushalt durch eine semi-proletarische Lage gekennzeichnet: ein Teil der Familie – vor allem die Alten – verbleibt auf dem Land, die Hauptquelle des Einkommens entspringt aus der Wanderarbeit eines oder mehrerer Familienmitglieder.
Die chinesische Binnenmigration – die mit einer Zahl von mittlerweile 200 Millionen MigrantInnen jährlich mehr Personen umfasst als die internationale Migration des gesamten Globus –ist das Rückgrat der Exportwirtschaft, die durch überseechinesisches und transnationales Kapital aus allen kapitalistischen Kernländern aus dem Boden gestampft wurde. Während die lokalen Kader der Kommunistischen Partei selbst als private Unternehmer tätig werden und in hohem Umfang öffentliches Kapital in die eigene Tasche wandern lassen, verhindert die institutionelle Trennung der Wohn- und Beschäftigungsmöglichkeiten von Land- und StadtbewohnerInnen, dass sich ArbeitsmigrantInnen uneingeschränkt in den Städten niederlassen können.
Die Verlagerung des Eigentums an Produktionsmitteln von einer bürokratischen Staatsklasse auf private und halbprivate Unternehmer und die Aufrechterhaltung der Trennung von Stadt und Land findet ihren Niederschlag in Form und Inhalt der Arbeiterproteste. In den Feldstudien der 1990er und frühen 2000er Jahre dominierte die Ansicht, dass Arbeiterwiderstand entlang der Unterscheidung StaatsarbeiterInnen vs. WanderarbeiterInnen begriffen werden müssten. Im Staatssektor führten Privatisierung, Bankrott und erodierende Renten- und Wohlfahrtsansprüche zu Widerstandsformen, die von kollektiver Arbeitsverweigerung bis zu Straßenblockaden reichten. Ziel war dabei primär die Einforderung gesetzlicher Kompensationsleistungen und der Erhalt von Arbeitsplätzen. WanderarbeiterInnen hingegen würden aufgrund nicht gezahlter Löhne, physischen Übergriffen und Arbeitsunfällen protestieren. Hier sei das primäre Ziel eine rechtliche Gleichstellung mit den städtischen ArbeiterInnen und eine Einhaltung von Arbeitsstandards. Dieser von Ching Kwan Lee veranschlagte Fokus auf „das Recht“ ging einher mit ihrer Charakterisierung der Proteste als „zellulärer Aktivismus, d.h. spontanen, lokal begrenzten Aktionen, die verebbten, sobald staatliche Stellen zur Regelung der Konflikte einschritten [2]. Für diese Interpretation spricht, dass die chinesischen Lokalbehörden tatsächlich, und in zunehmendem Maße, um die Schichtung von Arbeitskonflikten bemüht sind, um größeren Ausschreitungen vorzubeugen. Hier werden insbesondere die offiziellen Gewerkschaften aktiv, auch um zu verhindern, dass sich ArbeiterInnen in eigenständigen Zusammenschlüssen, die meist als NGOs getarnt sind, organisieren.
Legalistische Forderungen oder Klassenkampf?
Aktuellere Untersuchungen bestreiten jedoch ebenso den von Lee betonten Legalismus wie die Gültigkeit der Unterscheidung von Protesten im Staats- und Exportsektor. Zwar bleibt festzuhalten, dass sich das Zentrum der Proteste seit den späten 1990er Jahren vom Staatssektor auf die private Leichtindustrie der Sonderwirtschaftszonen verlagert hat, doch hat die innere Umstrukturierung der verbleibenden Staatsbetriebe zu Ausbeutungsverhältnissen geführt, die auch städtische ArbeiterInnen in eine zunehmend ähnliche strukturelle Lage bringt.
Diese Entwicklungen hängen auch mit einem demografischen Wandel zusammen. Seit Beginn der 2000er Jahre verlässt die zweite Generation von ArbeitsmigrantInnen die Dörfer – und hat anders als ihre Eltern auf das Stadtleben ausgerichtete Erwartungen. Während einige in ihren Dörfern kein Agrarland mehr besitzen oder nicht mehr wissen, wie sie es bestellen sollen, haben andere schlicht die Einöde des Landlebens satt und verlangen ihren Teil des Kuchens. Dass diese Erwartungen meist bitter enttäuscht werden – insbesondere während der jetzigen Krise, in der zwischen 20 und 40 Millionen WanderarbeiterInnen ihren Job verloren haben und in ihre Dörfer zurückkehren mussten – wird die Zahl von Arbeiterprotesten weiterhin ansteigen lassen. Das zentrale Problem bleibt jedoch nach wie vor das Integrations- und Gewaltpotential des kommunistischen Regimes. Insofern sind sich alle Beobachter einig, dass die Gefahr für den chinesischen Kapitalismus bis auf weiteres nicht von einer organisierten Arbeiterbewegung, sondern von einer massiven sozialen Destabilisierung durch die schiere Anzahl von Protesten und Ausschreitungen ausgeht.
Frido Jansen
Anmerkungen:
[1] Eine ausführlichere Diskussion der chinesischen Wirtschaftsreformen der letzten 30 Jahre findet sich in der Direkten Aktion, Nr. 184 (November/Dezember 2007), S. 12-13
[3] Ching Kwan Lee (2007): „Is Labor a Political Force in China?“, in: Perry, Elizabeth and Merle Goldman: Grassroots Political Reform in Contemporary China, Cambridge, Massachusetts. London.
[4] Chan, Chris King-Chi (2008a): „Neue Muster von ArbeiterInnenprotest in Südchina“, in: Peripherie, Jg. 28, Nr. 111.
Chinas offizielle Gewerkschaften
Chinas einzig legale und mit ca. 170 Millionen Mitgliedern weltweit größte Gewerkschaftsorganisation ist der All-Chinesische Gewerkschaftsbund (ACGB). Traditionell erfüllt er eine Doppelfunktion: Als „Transmissionsriemen“ der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) soll er einerseits eine Umsetzung politischer Beschlüsse auf Betriebsebene garantieren, andererseits Arbeiterinteressen vertreten. Der ACGB funktioniert nach dem Prinzip des demokratischen Zentralismus und ist gesetzlich zu Betriebsfrieden und Vertretung von ArbeiterInnen und Unternehmern verpflichtet – ein Streikrecht existiert in China ohnehin nicht. Seit neueren Kampagnen der Hu Jintao-Regierung zur Organisierung von WanderarbeiterInnen, tripartistischen Tarifverhandlungen und zum Ausbau von Schieds- und Schlichtungsverfahren ist die Funktion der Gewerkschaften für die Regulation der Arbeitsverhältnisse immer wichtiger geworden. Eine Vielzahl von BeobachterInnen entdecken darin eine vermeintliche Umorientierung der Gewerkschaften zu einem sozialpartnerschaftlichen Modell westlichen Typs. Obwohl unbestreitbar ist, dass der ACGB neue – sozialpartnerschaftliche – Aufgaben wahrnimmt, sind die jüngsten Veränderungen eher als Versuch quasi-staatlichen Kontrollerhalts zu interpretieren. Eine paternalistische Vereinnahmung von Arbeiterinteressen ist nicht unwahrscheinlich; noch deutlicher als im Westen gilt hier allerdings, dass die ArbeiterInnen selbst so gut wie keinen Einfluss auf die Politik der Gewerkschaften haben und in näherer Zukunft auch nicht haben werden.
Stimmen der dagongmei
„Die Chefs halten uns, die dagongmei [„arbeitende Schwestern“, geschlechtlich konnotierte Bezeichnung für Wanderarbeiterinnen], für minderwertig. Wenn es keine Arbeit gibt, schmeißt uns der Chef raus. Ist viel zu tun, stellt er uns befristet ein, um uns gleich nach der Auslieferung eines Auftrags wieder rauszuschmeißen – alles ohne Arbeitsvertrag und ohne irgendeine Absicherung.“ – Zhonghong, 20 Jahre
„Er [der Chef] hat ein grausames Herz. Alle Arbeiterinnen würden ihm am liebsten eine reinhauen, wenn sie mal aufhören. Einmal ist er vor einem Krankenhaus in Shiyan verprügelt worden und hat sich dann nicht mehr getraut rauszugehen.“ – A'xiu, 26 Jahre
Alle Zitate aus: Ngai, Pun u. Wanwei, Li (2008): Dagongmei - Arbeiterinnen aus Chinas Weltmarktfabriken erzählen. Berlin. Verlag Assoziation A.
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