Eyal Rozenberg (Israel)
Frage: Du lebst in Haifa, wo Du Dich an einer anarchistischen Gruppe
beteiligst. Wie sehen Eure Aktivitäten aus ? Wie erreicht Ihr die
Öffentlichkeit ? Auf welche Themen konzentriert Ihr Euch ? Die meisten Leute
haben schonmal etwas von "Anarchists against the Wall" gehört. Welche
anderen anarchistischen Projekte und Organisationen gibt es noch in Israel ?
Mit wem arbeitet Ihr zusammen ?
Eyal: Leider gibt es in Haifa keine anarchistische Gruppe. Es gibt nur einzelne
AnarchistInnen hier und da, aber anscheinend nicht genug, um eine stabile
Gruppe aufzubauen. Eigentlich kenne ich überhaupt keine anarchistische Gruppe
oder Organisation in Israel, abgesehne von der Anarcho-Punk-Szene. Freunde und
Bekannte von mir, von denen ich weiß, dass sie AnarchistInnen sind, sind meist
in nichtanarchistischen Organisationen aktiv: Bürgerrechte,
Nachbarschaftsgruppen, Anti-Besatzungs-Protest, Antimilitarismus, Unterstützung
von KriegsdienstverweigererInnen usw. Es gibt eine Menge an fortschrittlichen
Aktivitäten in Haifa, besonders im Vergleich zu anderen Orten in Israel /
Palästina, aber die meisten davon sind reformistisch. In einem gewissen Sinn
sind wir ein radikalisierender Einfluss in solchen Initiativen, der auf eine
eher reformistische "Öffentlichkeit" an AktivistInnen einwirkt.
Andererseits demotivieren uns die reformistischen Gruppen, uns unabhängig zu
organisieren. Das anarchistische Element wird in ihnen bis zur Unkenntlichkeit
verwässert. Das gilt übrigens nicht nur für AnarchistInnen, sondern auch für
radikalere MarxistInnen und in gewissem Maß auch palästinensische
NationalistInnen (obwohl diese die Organisation "Söhne des Landes"
haben, die so radikal ist, wie LinksnationalistInnen eben sein können).
Ich will mich nicht an einer strategischen Einschätzung dieser Situation
versuchen, da ich nicht glaube, dass es sich um eine bewusste Entscheidung
handelt, möchte aber etwas zu den emotionalen Auswirkungen sagen.
Einerseits wirst Du oft für Deine Bereitschaft zur Konfrontation bewundert, für
Deine Unterstützung mutiger Vorschläge und für Deine "mysteriöse"
Fähigkeit zum Einbringen von Ideen und Konzepten (Dafür brauchst Du nur eine
etwas radikalere Perspektive, einige Erfahrungen aus der Vergangenheit
radikaler Bewegungen und Deine heimlichen Wunschvorstellungen davon, wie der
Kampf aussehen könnte - all diese Dinge sind den meisten anderen nicht
zugänglich). Aber andererseits kannst Du nie wirklich ein Bestandteil dieser
Gruppen werden: Entweder merkst Du, dass Du Deine Überzeugungen für Dich
behälst oder wirst als der Pedant angesehen, der alle anderen ständig
kritisiert. Manchmal wirst Du dann etwas herablassend gegenüber Deinen
MitaktivistInnen: Sie erscheinen ungebildet, uninformiert, fehlgeleitet,
defätistisch und vorurteilsbehaftet. Du fängst an, Deine Erfahrungen aus
verschiedenen Kämpfen und Lebensbereichen voneinnader zu trennen, so dass sie
nichts mehr miteinander zu tun haben und sich manchmal sogar widersprechen.
Völlig klar, dass es so unmöglich ist, eine wichtige oder gar führende
Rolle zu übernehmen, da dies noch mehr Selbstverleugnung erfordern würde.
Ich bin mir aber nicht sicher, inwiefern dies für andere AnarchistInnen in
Israel / Palästina gilt und vieviel davon nur meine persönliche Erfahrung ist.
Wenn wir einmal bei den persönlichen Erfahrungen sind, sollte ich wohl etwas
über meine eigenen Aktivitäten sprechen. Meine erste wirkliche politische
Aktivität war die Teilnahme an den StudentInnendemonstrationen 1998 für die
Senkung der Studiengebühren. Das blieb zunächst ein isoliertes Ereignis, da ich
direkt nach dem Abebben der Proteste zum israelischen Militär eingezogen wurde,
dennoch löste diese Erfahrung bei mir einen Prozess der politischen Bewusstseinsbildung
aus. Dieser fand seinen Höhepunkt, als ich zwei Jahre später die
Entschlusskraft und die Nerven hatte, dafür zu sorgen, vorzeitig aus dem
Militärdienst entlassen zu werden. Danach habe ich lange Zeit
KriegsdienstverweigererInnen beraten. Ausserdem war ich in verschiedenen
StudentInnenorganisationen in meiner Fakultät aktiv: Ich war im Graduiertenrat
der Fakultät, bis ich rausflog, und zwei Semester Fakultätsdelegierter im
Allgemeinen Graduiertenrat. Ich war an Antikriegsaktivitäten beteiligt, besonders
während des jüngsten Krieges im Libanon, aber auch während der letzten sechs
Jahre (wow, nun sind es schon sechs Jahre seit den Ereignissen vom Oktober
2000, ich werde langsam alt).Hin und wieder unterstütze ich die ganz und gar
nicht radikale Umweltbewegung, v.a. mit Transpi-Malen und Propangandaarbeit wie
z.B. Netzwerkadministration. Eine kleine Anekdote: Einmal fanden vor dem
Gebäude des Stadtrates von Haifa vier verschiedene Demonstrationen gleichzeitig
statt. Eine forderte die Beseitigung von Giftmüll am Ufer des Qishon-Flusses,
eine richtete sich gegen geplante Abrisse in einem (armen) arabischen
Wohnviertel, eine gegen die Umleitung der Busse durch das Bat-Galim-Viertel
wegen einer Liniennetzänderung und die vierte gegen die Schliessung einer Grundschule.
Ich war da, um die ersten beiden zu unterstützen und hatte ein Transparent mit
Parolen für beide Anlässe gemacht. Das Problem war, dass Demo Nummer vier eine
ganze Klasse von Sechsjährigen mitgebracht hatte, die mit ihren hohen Stimmen
schrien, so
dass Du nichts anderes mehr höhren konntest.
Bevor ich etwas zuden "Anarchists against the Wall" (AatW) sage,
möchte auf ein Problem hinsichtlich der Art und Weise, wie Informationen zu den
AnarchistInnen in der westlichen Welt gelangen und dort verbreitet werden,
hinweisen. Oft konsumieren Leute staatlich oder privatwirtschaftlich
kontrollierte Massenmedien und ergänzen durch
Quellen wie infoshop.org, A-Infos, Indeymedia usw. Das bedeutet, dass sie nur
einen sehr begrenzten und meist verzerrten Kontext der Ereignisse und ihrer
Bedeutung haben. Dazu kommen Informationen von Leuten, die selbst einseitig
berichten. Die wichtigste dieser Einseitigkeiten - und zugleich die
"unschuldigste" - ist das psychologische Bedürfnis, etwas sinnvolles
erreicht zu haben: Leute wollen etwas zu berichten haben. Es ist frustrierend
für jemanden, der Nachrichten auf Mailinglisten und Webseiten veröffentlichen
kann, dies nicht zu tun, weil es nichts wichtiges zu berichten gibt. Als
AnarchistInnen in einem Land wie diesem, mit viel medialer Aufmerksamkeit und
ohne bekannte anarchistische Bewegung, kommt häufig der unterbewusste Wunsch,
"das Gesicht zu wahren", dazu. Deshalb werden Aktionen, dieman
organisiert, an denn man sich beteiligt oder die man unterstützt, gern als anarchistisch
charakterisiert - und ausserdem als bedeutend genug, um weltweite
Aufmerksamkeit zu verdienen. Es ist nur natürlich, dass, wenn man
diesem Impuls nachgibt, ausländische LeserInnen, denen das Hintergrundwissen
fehlt, um die Spreu vom Weizen zu trennen, einen ziemlich falschen Eindruck
bekommen.
Die Wahrnehmung von AatW durch die meisten AnarchistInnen, denen ich begegnet
bin, sehe ich als ein gutes Beispiel für dieses Phänomen. Obwohl viele
AatW-Mitglieder AnarchistInnen sind, ist es weder anarchistische Gruppe noch
sind ihre Aktionen anarchistisch noch propagiert sie Anarchismus. Im Gegenteil:
Sie sind sehr staatlich
orientiert und unterstützen (in Interviews mit israelischen Massenmedien) eine
Zwei-Staaten-Lösung (zur Bedeutung dieser Idee siehe unten). Wenn Du Dir ihr
öffentlichen Auftreten, ihre Interviews, ihre Webseite, ihre konkreten Aktionen
und ihr Umfeld von israelischen NGOs ansiehst, würdest Du vermutlich zu dem
gleichen Schluss kommen.
Es ist nicht so, dass ich ihre Aktionen ablehne, das tue ich nicht.
Solidaritätsaktionen von Israelis mit palästinensischen Bauern sind eine gute
Sache und haben auch tatsächlich bereits kleinere Änderung im Verlauf der
Trennungsmauer gebracht. Aber die Realität ist, dass der Zaun an sechs Tagen in
der Woche gebaut wird und am siebenten Tag demonstrieren Leute, hoffen auf
Wahrnehmung durch kapitalistische Medien und versuchen so, die israelischen
Gerichte zu beeinflussen. In diesen Tagenwurde der Zaun bei Bil'in
fertiggestellt, so dass sich der Protest
mehr an die Vergangenheit als an die Gegenwart richtet. Das ist für mich nicht
anarchistisch.
Frage: Wie sieht die Zusammenarbeit mit PalästinenserInenn und israelischen
AraberInnen aus ?
Der Begriff "israelische Araber" ist problematisch, schliesslich sind
sie auch PalästinenserInnen, die nur zufällig in demjenigen Teil Palästinas
leben, über den Israel eine anerkannte Souveränität besitzt (im Gegensatz zur
effektiven Souveränität wie in den 1967 besetzten Gebieten). Lass uns zunächst
festhalten, dass die beiden Gruppen - PalästinenserInnen auf den beiden Seiten
der "Grünen Linie" von vor 1967 - - fast vollständig getrennt sind.
Kontakte gibt es nahezu gar nicht, da sie automatisch kriminalisiert und mit
Terrorismus und Sabotage in Verbindung gebracht werden (In Israel wird statt
"Terrorist" häufig die Bezeichnung "Saboteur" verwendet,
womit letztendlich jedeR bezeichnet werden kann, der/die das zionistische
Projekt "sabotiert"). In der Zeit zwischen 1967 und den späten Oslo-Jahren
gab es wohl einiges an persönlichen Kontakten, vielleicht sogar kleine
geschäftliche Beziehungen, aber nicht mehr. Es gab definitiv keine Kontakte
zwischen Organisationen, weil man dann meistens ziemlich schnell in einem
Geheimdienstverhör landet (was in Isreal ganz besonders für AraberInnen kein
Spaß ist) und mittlere bis sehr lange Haftstrafen erhält. Natürlich kann man
davon ausgehen, dass manche Leute nicht eingesperrt werden und ihre Kontakte
als Teil der Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden weiterpflegen.
Hinsichtlich der Zusammenarbeit zwischen jüdischen Israelis und
PalästinenserInnen muss man deutlich zwischen den Menschen ausserhalb der 1967
bsetzten Gebiete, in Gaza und im Westjordanland unterscheiden. Zu Gaza gibt es,
soweit ich weiß, gar keinen Kontakt. Im Westjordanland gibt es ein
jüdisch-arabische Kooperation (abgesehen von der Tatsache, dass es
Palästinenser sind, die die jüdischen Siedlungen bauen, auch die Trennungsmauer
wird angeblich mit dem Beton einer Firma des ehemaligen palästinensischen
Ministerpräsidenten Ahmad Qureia gebaut). Nach 1967 kamen viele Menschen aus
dem Westjordanland nach Israel (auch aus Gaza, was heute nur noch so etwas wie
ein großes Gefängnis ist), um zu arbeiten, Verwandte zu besuchen, zu handeln
oder einfach um im Mittelmeer zu baden. Bis heute gibt es in vielen
palästinensischen Dörfern ausserhalb der besetzten Gebiete eine kleine Anzahl
von (zumeist eingeheirateten) Leuten, die aus dem Westjordanland stammen.
Natürlich waren das keine politischen Kontakte...
In den frühen 1980ern gab es eine einigermaßen bekannte Gruppe linksradikaler
Israelis names "Bir Zeit-Solidaritätskommittee" (Bir Zeit ist eine
Universität bei Ramallah):
http://israeli-left-archive.org/?site=localhost&a=p&p=about&c=committe&ct=1&qto=1&l=en&w=utf-8
Nicht sehr überraschend waren die palästinensischen Gruppen und Parteien [in
Israel, d.Ü.] nicht gewillt und/oder nicht in der Lage, mit ihrem jeweiligen
Partnern in den besetzten Gebieten zusammenzugehen: Die israelischen Behörden
würden dies niemals zulassen, von welcher Seite die Initiative auch kommen mag.
Es gibt auch keine nennenswerte Interaktion von NGOs und irgendwelchen
Organisationen im Westjordanland, da praktisch alle relevanten Organisationen
(ausser Fatah) bis heute illegal sind. Offizielle Kontakte, die mit der
Errichtung der Fatah-dominierten Paläsinensischen Verwaltung entstanden, waren
natürlich nicht sonderlich hilfreich für radikale Ziele, obwohl die Tatsache,
dass viele Israelis bemerkten, dass auch PalästinenserInnen menschliche Wesen
sind, auch schon recht radikal war. Siehe hierzu auch das
"Windows"-Projekt: http://www.win-peace.org/
Ausser gelegentlichen Besuchen durch die Kommunistische Partei Israels (CPI)
oder palästinensischen Knesset-Abgeordnete fanden nahezu alle Kontake unter der
Kontrolle und durch den Filter des politischen Establishments statt.
Nach dem Beginn der zweiten Intifada im Oktober 2000 gründete sich die
israelische Gruppe "Taayush" ("Koexistenz"), um der
palätinensischen Bevölkerung auf verschiedene Weise zu helfen (Lebensmittel,
medizinische
Ausrüstung usw.) und dies auf einem "öffentlicheren" und
"demonstrativeren" Weg als durch eine bezahlte Verwaltung zu tun. Die
CPI spielte hierbeieine führende Rolle, aber Taayush steht deutlich weiter
links als die Partei selbst und hat auch radikalere Mitglieder. Ausserdem war
es ein ein Rahmen für die Zusammenarbeit zwischen jüdischen Israelis und
AraberInnen, was wie gesagt sehr selten ist. Auf der palästinensischen Seite
waren allerdings hauptsächlich Fatah-Funktionäre (und manchmal welche der
Hamas) beteiligt und sonst niemand.
Es gibt ein paar Extremfälle wie den von Tali Fahima, einer Sekrtärin aus der
relativ armen Arbeiterstadt Qiryat-Gat, ursprünglich Likud-Anhängerin, die
eines Tages Beschloss, nach Jenin zu fahren und zu sehen, ob das, was dort
tatsächlich passiert, all den Lärm lohnte, der darum gemacht wurde. Sie
freundete sich mit lokalen Aktivisten im
Flüchtlingslager von Jenin an und versuchte, Computerkurse zu organisieren, als
die israelischen Sicherheitskräfte sie festnahmen, vermutlich, weil sie sich
weigerte, als Informantin zu dienen. Sie ist zur Zeit immer noch im Gefängnis:
http://freetalifahima.org/eng.php?lang=en
Zur Zusammenarbeit zwischen PalästinenserInnen und Israelis ausserhalb der
besetzten Gebiete: Das ist ein zu umfassendes Thema, um es erschöpfend
zusammenfassen zu können, aber ich werde Dir einige Fakten nennen. Die beiden
Bevölkerungsgruppen werden mit verschiedenen Methoden aktiv voneinander
entfernt, was sich auch im radikalen politischen Spektrum zeigt. Unter den
palästinensischen Parteien ist die CPI diejenige, die sich am meisten um eine
jüdisch-arabische Zusammenarbeit bemüht. Leider dient als Basis für diese
Zusammenarbeit die historische
Unterstützung des Staates Israel (einschliesslich CPI-Mitgliedern, die als
Offiziere an der Vertreibung von PalästinenserInnen teilnehmen), anstatt des
Versuches, die beiden ethnischen Gruppen zu integrieren. Die CPI (bzw. ihre
Vorfeldorganisation Hadash, in die sie sich langsam auflöst) hat die berühmte Parol
"Zwei Staaten für zwei Völker", so dass viele Leute schon sagen,
Hadash hätte "zwei Parteien für zwei Völker". Dann gibt es die
islamische Bewegung, die nicht die Absicht hat, mit JüdInnen (oder
Hebräisch-sprachigen Menschen) zusammenzuarbeiten – weder der radikalere
"Nordflügel", der die Parlamentswahlen boykottiert, noch der
opportunistischere "Südflügel". Dann gibt es Azmi Bshara's NDA
{National Democratic Alliance], die ein paar JüdInnen auf ihren
Knesset-KandidatInnenlisten und unter ihren Mitgliedern hat, und die
nationalmarxistische "Söhne des Landes"-Bewegungmit noch weniger
jüdischen Mitgliedern. Die CPIund die NDA haben eine Reihe von ihnen
nahestehenden NGOs (Bürgerrechte, Kommunalpolitik, Taayush,...), in denen es
einige Zusammenarbeit zwischen JüdInnen und AraberInnen gibt. das gleiche gilt
für "unabhängige" NGOs (die Anführungszeichen kommen daher, dass die
meisten von irgendwelchen jüdischen oder christlichen Gruppen, der EU oder dem
Staat finanziert werden). In weniger strukturierten Netzwerken gibt es kaum
Zusammenarbeit, selbst in gemischten Städten wie Haifa und Jaffa. Im
Graduiertenrat im Technion [Universität von Haifa, d.Ü.] haben wir keinen
einzigen palästinensischen Fakultätsdelegierten (Es gibt zwar relativ wenige
palästinensische Graduierte, aber dennoch...), auch im Untergraduiertenrat
{entspr. dem dt. AStA bzw. StuRa, d.Ü.], der über 1.000 palästinensische
StudentInnen vertreten soll, findet man kaum einen von ihnen. Das ist besonders
ärgerlich, da es am Technion nicht gelingt, eine funktionierende Vertretung der
arabischen StudentInnen aufzubauen (wie in den meisten anderen Universitäten).
Eine letzte Bemerkung zur Zusammenarbeit: Ich habe die palästinenische Diaspora
nicht erwähnt. Es gab in den letzten Jahrzehnten immer wieder Kontake zwischen
im Ausland lebenden antizionistischen JüdInnen, einzeln oder organisiert (siehe
z.B. Matzpen), mit palästinensischen Menschen und Gruppen, aber mir sind keine
derartigen Kontakte von Israelis bekannt. definitiv gibt es keine zu den BewohnerInnen
palästinensischer Flüchtlingslager in den Nachbarländern.
Frage: Was hälst Du von der sgenannten "Zwei-Staaten-Lösung" und was
von einem Palästina ohne israelischen Staat?
Palästina ist auch so ein Fall, in dem Du Deiner anarchistischen Intuition ganz
gut trauen kannst, zumindest hinsichtlich solcher "Lösungen". Das
sieht ungefähr so aus: Zwei Staaten sind schlechter als ein Staat, ein Staat
ist schlechter als kein Staat. Aber lass uns genauer werden.
Wann und wo ist die "Zwei-Staaten-Lösung" entstanden ? Das war zu
Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, als die PalästinenserInnen die große
Mehrheit der Bevölkerung bildeten und auch einen Großteil des Landes besaßen
(was bis 1948 der Fall war, obwohl die ZionistInnen bis dahin ökonomisch und
militärisch viel mächtiger geworden waren und inzwischen ein Drittel der
Bevölkerung bildeten). Da ein Lösung, die die Bewohner des Landes völlig von
der Landkarte wischte und den Kolonisten alles überließ, verrückt gewesen wäre,
wurde die Zwei-Staaten-Lösung von den BritInnen (und teilweise auch von den
ZionistInnen) vorgeschlagen.
Mit fortschreitender Zeit schrumpft der dem palästinensischen Staat zugedachte
Teil des Landes immer mehr zusammen und die gegenwärtige Vision vieler Israelis
(der ein internationaler Konsens mit einigen Jahren bis Jahrzehnten Verzögerung
zu folgen scheint) ist die eines palästinensischen Staates aus mehreren
Bantustans, die etwas 20 Prozent der Fläche Palästinas bedecken. Fatah, Hamas
und die internationale Gemeinschaft fordern ein etwas größeres und
zusammenhängenderes Gebiet (ca. 27% entsprechend der Grenzen von vor 1967),
aber sie werden vermutlich wie in der Vergangenheit "Vernunft
annehmen" und diese Forderungen reduzieren, z.B. indem sie nichts westlich
der Trennungsmauer verlangen. Ich vermute, die USA haben dies bereits getan.
Das Argument hierfür, das wir von der Linken (CPI, NDA usw.) zu hören bekommen,
ist, dass es keine gute Lösung sein mag, aber die PalästinenserInnen lange
genug gelitten hätten und es ihnen nun ermöglicht werden sollte, in relativer
Ruhe und Frieden zu leben, auch ohne historische Gerechtigkeit oder ideale
wirtschaftliche und
politische Bedingungen. Wir werden als Puristen und Utopisten kritisiert, stur
und den Weg zu einer Realität, in der weniger PalästinenserInnen getötet,
verletzt, verhaftet und gequält werden, behindernd. Sie vergessen offenbar,
dass die Mehrheit der PalästinenserInnen in einer solchen Lösung weiter
Flüchtlinge bleiben würden. Sie blieben entweder in den Flüchtlingslagern im
Ausland oder gingen in Lager mit ähnlichen oder schlechteren Bedingungen im
Westjordanland (Gaza ist bereits randvoll mit Flüchtlingen) oder gar in Lager
unter zionistischer Souveränität. Diese linken BefürworterInnen der
Zwei-Staaten-Lösung vergessen auch die Natur der palästinensischen Verwaltung
der Oslo-Zeit. Es war eine Bilderbuch-Marionettendiktatur, die massenhaft
Oppositionelle einsperrte, verschiedene Polizei- und Paramilitäreinheiten
unterhielt sowie eine autoritäre und superkorrupte Regierungs- und Verwaltungsstruktur
aufbaute. Sie vergessen, dass dieser palästinensische Pseudostaat von Anfang an
wirtschaftlich nicht funktionsfähig war, ein Gebiet, welches von den umgebenden
Wirtschaftsräumen abgeschnitten ist, mit einer Regierung, die man als
ökonomisch selbstzerstörerisch bezeichnen kann: Es gab keine Unterstützung für
die inländische Konsumgüterproduktion, dafür einen freien Kapitalfluss, der für
eine exportorientierte Industrie und
Landwirtschaft sorgte und eine massive Korruption in der Wirtschaft. Das Bruttosozialprodukt
der besetzten Gebiete fiel während der Oslo-Jahre um 40 Prozent. Diese Linke
vergisst, dass wir unddie PalästinenserInnen in
einer Klassengesellschaft leben, in der Kapitalismus und Imperialismus
dominierende Phänomene sind, und nicht in einem demokratischen oder
nationalistischen Utopia. Sie ist damit zufrieden, die PalästinenserInnen all
dem auszusetzen und vergibt gleichzeitig jede Möglichkeit, radikalere Schlüsse
aus der Erfahrung der Unterdrückung zu
ziehen.
Man sollte bei der Diskussion einer X-Staaten-Lösung auch immer im Kopf
behalten, dass das Land, von dem wir sprechen - das Palästina der Mandatzeit -
in ein Rechteck von 520 mal 65 km passt, das ist etwa ein Fünfzehntel der
Fläche Deutschlands. Das meiste davon besteht aus Gebirge und Wüsten.
Nun zur Ein-Staat-Lösung. Diese hat zwei Varianten - entweder ein Staat mit den
Grenzen des Mandatgebietes Palästina oder ein Sprungbrett für das größere
panarabische nationale Projekt eines vereinten arabischen Staates.
Letzteres ist das historische Ziel der nationalistsichen Bewegung im arabischen
Nahen Osten, die Idee einzelner Staaten ist vor allem eine Hinterlassenschaft
der britischen und französischen Kolonialzeit nach dem Ersten Weltkrieg. Die
Kolonialmächte waren mit ihrer Teilung des ehemaligen Osmanischen Reiches in
Regionen und Kleinstaaten sehr erfolgreich: buchstäblich über Nacht gelang es
ihnen, lokale Eliten als Herrscher dieser neuen Staaten oder Proto-Staaten
einzusetzen. Diese waren unterwürfig genug, die Teilung des arabischen Raumes
beibehalten zu wollen, und gleichzeitig bzw. glaubwürdig mächtig genug, um
nicht sofort gestürzt zu werden. Nicht alle haben bis heute überlebt – im
Gegenteil - , aber mit einer kurzen Ausnahme in den späten Fünfzigern haben
sich die einzelnen arabischen Staaten nie vereinigt.
Der Mangel an politischer Einheit unter der AraberInnen, der Zustand extremer
und dauerhafter Unterentwicklung, Korruption, Vetternwirtschaft und die
Unterwerfung durch den europäischen und amerikanischen Imperialismus - die
umfassende Frustration durch all das scheint die Haupttriebkraft des
panarabischen Nationalismus zu sein. Die schlimmste Frustration entstammt dabei
der gemeinsamen Erfahrung, verraten worden zu sein. Wenn sich ein
"nationales Projekt" entwickelt, gibt es eine Art von Partnerschaft
zwischen den NationalistInnen - StudentInnen,
HandwerkerInnen, Intellektuelle, untere und mittlere Offiziere - und der
herrschenden Klasse - Bürgertum, Generalität, selten auch der Adel. Aber
unfehlbar werden die nationalistInnen von ihren Verbündeten früher oder
später verraten, sie bekämpfen sich gegenseitig, unterbrechen die
wirtschaftlichen und agrarsichen Reformen, kollaborieren mit westlichen
Kapitalisten oder Russland oder beiden, vrstärken die innere Repression, sperren
Unmengen von leuten ein, schränken die Redefreiheit ein und so weiter. Das mag
eine Verallgemeinerung sein, aber mir scheint, dass dis eine immer
wiederkehrende Erfahrung der arabsichen nationalen Bewegung ist.
Was hat das mit der Palästinafrage zu tun ? Nun, die PalästinenserInnen waren
in hohem Maße an den meisten arabisch-nationalistischen Aktivitäten der letzten
fünfzig Jahre beteiligt und die Nationalisten - in Ägypten, Libanon, Irak und
anderswo - sehen Palästina oftmals als die zentrale Frage, als ein Synonym für
ihr beständiges Scheitern. Versuche einmal für einen Augenblick, in Begriffen
des national-arabischen "Wir" zu denken: Wir konnten die europäische
Eroberung in der spätosmanischen Zeit nicht abwehren, wir scheiterten mit unseren
Aufständen, wir
versagten beim Aufbau einer grenzübergreifenden antikolonialistischen
Volksbewegung, unsere Rückständigkeit und Fraktionskämpfe haben unsere
gelegentlichen Proteste und Guerillakämpfe zerstört, wir konnten die Zionisten
militärisch nicht besiegen, als das britische Mandat endete, unsere Regierungen
haben 1948 ihre Kriegsanstrengungen nicht koordiniert, unsere korrupten
Herrscher schickten symbolische Truppenkontingente, um Land zu besetzen,
anstatt zu kämpfen, einige kolaborierten sogar mit den Zionisten, wir schafften
es nicht, unsere zahlenmäßige und geographische Überlegenheit bis 1967 zu
nutzen (abgesehen von Nassers Trick 1956), dann wurden wir völlig blamiert, wir
behandelten unsere palästinensischen Brüder schlimmer als die Zionisten es taten
und wir blieben ein rückständiger Teil der Dritten Welt, während Israel immer
reicher und mächtiger wurde und die Palästinener weiter unterdrückt, während
wir danebenstehen und zuschauen, während Israel sich als die einzige Demokratie
in der Region bezeichnet und und und... Verstehst Du jetzt den ganzen Frust
etwas besser ?
Nun hast Du einen Eindruck davon, wie sich ein arabischer Nationalist fühlt.
Das Ganze ist kein wirkliches Argument für eine Ein-Staat-Lösung, eher eine
Entschuldigung, was nicht das gleiche ist. Mit meinem Blickwinkel eines
nichtarabischen Antizionisten ist mein emotionales Gepäck natürlich ein ganz
anderes, so dass ich viel eher fragen kann: "Na gut, aber warum passierte
das alles ? Ziehen wir die richtigen Schlüsse daraus ?" Ich bin etwas
skeptisch, ob diese Erklärungen, wie ich sie dargestellt habe, Dich überzeugen.
Überleg mal: Ein Staat. Staaten haben herrschende Klassen. Wenn Du kein
Vulgärmarxist bist, der glaubt, dass die ArbeiterInnen (oder die ArbeiterInnen,
BäuerInnen und Arbeitslosen) einen Staat beherrschen können, wird es auf eine
kleine herrschende Klasse hinauslaufen. Viele NationalistInnen, auch die
angeblich antikapitalistischen, glauben an ein Klassenbündnis, d.h. sie
betrachten die Entwicklung einer nationalen Wirtschaft als kurzfristig
notwendiges Übel. Damit finden sie sich mit einer fragwürdigen bis feindlichen
herrschenden Klasse ab oder unterdrücken die Erkenntnis (was in dieser Gegend
eine gängige Technik ist, die man selbst nicht mehr unbedingt wahrnimmt). Nenn
mich einen verwöhnten Kolonisten, aber ich habe ein Problem damit...
Selbstwenn wiruns einen solchen Staat vorstellen können: Wo zum Teufel soll
diese herrschende Klasse herkommen ? Die israelische Bourgeoisie will
keinen demokratischen paläsinensischen oder nicht-nationalen Staat, also fällt
sie schon mal aus. Palästinensische Bourgeoisie ? Wenn man sich die ergebnisse
von Oslo ansieht, kann man von einem frühen Tod, wenn nicht gar von einer
Totgeburt sprechen, sie ist ganz bestimmt nicht mächtig genug für diese
Aufgabe. Eine Übernahme durch die Herrschenden eines Nachbarlandes ? Ich sehe
nichts davon, ganz bestimmt nicht
ökonomisch. Vielleicht wird es eine Militärjunta oder etwas derartiges, wie es
in Drittweltländern nach Putschen ja öfters vorkommt (vielleicht so ähnlich wie
Nasseer, der war ja auch sehr populär) ? Möglicherweise werden uns die USA auch
alle ganz direkt regieren, ohne ethnische Bevorzugung und Diskriminierung ?
Alle diese Varianten sehen ziemlich mies aus und wären möglich, wenn einekleine
Gruppe eine große Bewegung übernimmt und so die bisherige Gesellschaftsordnung
stürzt. Ich könnte weitermachen, aber es sind alles unfundierte Spekulationen
und
Luftschlösser. Wenn ich die Frage aufwerfe, wie eine Gesellschaft nach dem
Erfolg der NationalistInnen aussieht und ob die Leute glauben, eine
kapitalistische Demokratie wie z.B. Großbritannien oder Deutschland sei ein
gutes Ziel, um dafür zu kämpfen, lautet die Antwort meistens "Du schaust
zu weit in die Zukunft. Lass uns zunächst einen Nationalstaat haben wie alle
anderen auch, dann werden wir sehen, ob er uns gefällt.", Diese Antwort
regt mich auf, erklärt aber ganz gut, warum die Wahl zwischen "Zwei
Staaten" und "Ein Staat" zur Zeit das einzige Spiel ist, was
hier gespielt wird.
Frage: In Anbetracht der nationalistischen und religiösen Fanatiker auf beiden
Seiten, wie wahrscheinlich ist Frieden überhaupt ?
Eyal: Diese Frage finde ich aus drei Gründen etwas seltsam.
Der erste ist, dass sie unterstellt, es gäbe eine Art von Parität zwischen der
zionistischen (auf der auch die SA und in verschiedenem Ausmaß die EU, die UNO
und teilweise sogar die PNA stehen) und der palästinensischen Seite gibt,also
zwischen Kolonist und Kolonisiertem, zwischen unterdrücker und Unterdrücktem.
Diese Parität akzeptiere ich nicht.
Dann ist da diese Wahrnehmung, dass die Existenz des Konfliktes dem Verhalten
von "Fanatikern" oder "Extremisten" zuzuschreiben ist.
"Wenn es die Extremisten nicht gäbe, hätten wir längst Frieden." Die
meisten
ultraorthodoxen JüdInnen sind politisch nicht sonderlich aktiv, ausser
wenn es um die Finanzierung ihrer religiösen Einrichtungen und Sozialprogramme
geht. Die eher "nationalreligiösen" JüdInnen, die Du in den 1967
besetzten Gebieten siehst, sind von einer anderen Sorte (obwohl der Übergang
manchmal fliessend ist). Wenn Du Dir den Alltag ihrer Präsenz in den besetzten
Gebieten und die Mechanismen des Siedlungsprojektes ansiehst, wirst Du
bemerken, dass sie ohne massive und kontinuierlichestaatliche Unterstützung -
militärisch, finanziell, logistisch - nahezu machtlos wären. Sie sind nicht
mehr als ein Werkzeug in den Händen des Staates. Die zionistische
"Linke" und die Pseude-Liberalen (Meretz, Peace Now und andere)
beschuldigen die fanatischeren religiösen SiedlerInnen oft, den Staat mit dem
Siedlungsprojekt "als Geisel genommen zu haben". Das ist meiner
Meinung nach vor allem Selbsttäuschung, notwendig, um keinen Konflikt mit den
eigenen politischen Partnern oder untereinander austragen zu müsen. Auf der
palästinensischen Seite ist Hamas fundamentalistisch, aber ich würde sie nicht
als Fanatiker oder ein "Hindernis für den Frieden" bezeichnen. Wenn
Du mehr Fanatismus suchst, sieh Dir die kleinere und weitaus
einflusslosere "Palästinensische Islamische Jihad-Bewegung" an. Hamas
dagegen ist halbwegs kompromissbereit, mehr inhaltlich als stilistisch.
Der dritte Grund ist die Annahme, dass Frieden im Augenblick wünschenswert sei.
Sollte es "Frieden" geben, solange Israel existiert ? Sollten wir
"friedlich" handeln ? Stell Dir vor, es gäbe eine starke
anarchistische Bewegung in Deutschland. Wäre das Land friedlich, wäre der
Staat friedlich ? Natürlich nicht, er würde den Klassenkampf gegen
die ihn bedrohende revolutionäre Bewegung führen. Nun, in Palästina und der
umgebenden Region gibt es viele Bewegungen und Organisationen, die, obwohl sie
den Zionismus in verschiedenem Ausmaß akzeptieren, gegen
einige seiner Auswirkungen und Handlungen kämpfen, also gibt es keinen Frieden.
Frieden in diesem Land benötigt als notwendige Vorbedingung entweder die
völlige Niederschlagung des Widerstandes durch kollaborierende Kräfte unter den
PalästinenserInnen (und in den umgebenden arabischen Staaten) oder das Ende der
Existenz Israels
als zionistischer Staat. Beachte, dass ich das als notwendige und nicht
hinreichende Bedingung bezeichne und dass ich nicht meine, die komplette
Zerstörung Israels sei eine Bedingung für Frieden (unabhängig davon, ob ich
selbst dies wünsche oder nicht).
Frage: Wie stehen die Chancen der Idee, den palästinensischen Flüchtlingen von
1948 die Rückkehr in ihre Dörfer in Israel zu ermöglichen ?
Eyal: Zunächst müssen wir uns vor Augen halten, dass sich die palästinensische
Flüchtlingsbevölkerung eit 1948 ungefähr vervier- bis - -fünffacht hat und dass
es keine ückkehr zum ländlichen Leben des frühen 20. Jahrhunderts geben kann.
Das vergessen viele PalästinenserInnen, die die Vorstellung von einer Rückkehr
in ein vorindustrielle Idylle pflegen. Andererseits ist eine Rückkehr aber
möglich. Selbst wenn die Flüchtlinge alle in "ihr" ehemaliges Dorf
zurückkehrten, wäre das auf einer technischen Ebene machbar. Die unmittelbare
Umgebung der meisten entvölkerten Dörfer wird bis heute nicht bewohnt. Das ist
aber eine alberne - obwohl beliebte - Vorstellung avon, wie eine Rückkehr
aussähe. Wenn Du es ernsthaft betrachtest und nicht wie eine quasireligiöse
Sankt-Nimmerleins-Tag-Erlösung, sieht die Sache viel komplizierter aus.
Palästina ist bereits ohne Berücksichtigung der Flüchtlinge sehr dicht
besiedelt (8 Millionen), zusätzliche 3 Millionen Menschen sind daher ziemlich
viel. Vergleichen wir das mit der Integration von einer Million russischer
Einwanderer während der 1990er. Diese kamen mit staatlicher Zustimmung und
bedeutenden Haushaltsmitteln und mussten trotzdem mehrere Jahre in Wohnwagensiedlungen
leben, bevor sie mehrheitlich in die ärmeren Schichten der jüdischen
ArbieterInnenklasse integriert wurden (ähnlich den Mizrachi-JüdInnen,
Einwanderern aus den Staaten des Nahen Ostens). Sie wohnen vor allem in den
armen Vierteln der großen Städte und in Kleinstädten. Es gibt eine Minderheit
unter ihnen, die sich besser integriert haben und (u.a. dank früherer
Ausbildung) Teil des akademischen Milieus oder der arbeitenden Intelligenz
wurden - ÄrztInnen, IngenieurInnen, öffentlicher Dienst usw. Und nun weitere
drei Millionen ?
Selbst wenn sie der Staat Israel durch irgendeinen Zauber plötzlich
hereinließe, wäre es nicht einfach nur "dreimal so problematisch".
Sie kämen auf einmal, die lokale Bevölkerungsdichte ist seitdem stark
gestiegen, der Arbeitsmarkt sieht schlechter aus, die Sozialleistungen wurden
zusamengestrichen. Sie wären eine Bevölkerungsgruppe, die großen
Diskriminierungen und Vorurteilen ausgesetzt wäre sowie die letzten 60 Jahre
als Flüchtlinge in Lagern gelebt hat und nicht als vollgültige Mitglieder einer
modernen Industriegesellschaft. Nun, auch die UdSSR war teilweise recht
rückständig, aber eben nur teilweise.) Rückblickend auf die Zeit vor ihrer
Enteignung ist ihre Kultur mehrheitlich die von vorkapitalistischen BäuerInnen...
Abgesehen davon, dass die russischen Immigranten zumeist bereit waren, ihr
kulturelles Erbe, ihre Bräuche, ihre Sprache bereit waren, für eine neue
hebräisch-israelisch-jüdische Identität aufzugeben, während die
PalästinenserInnen ihre Geschichte weiderhaben und nicht aufgeben wollen. Es
wird im existierenden kapitalistischen Rahmen nicht funktionieren, selbst mit
dem "Aufnahmezauber" nicht.
Diese Aufnahem ist an sich schon unmöglich. Die Steigerung des
palästinensischen Bevölkerungsanteils auf etwa 50% - von denen die meisten
nicht "angepasst" sind wie die israelischen PalästinenserInnen - ,
bedeutete eines der folgenden Szenarien: Entweder Israel hört auf, zumindest
nominell eine Demokratie zu ein, die politische Kontrolle durch den Zionismus
endet oder die Flüchtlinge werden wieder hinausgeworfen. Da dies bekannt ist,
wird Israel niemals zu lassen, dass es soweit kommt, d.h. solange Politik und
Militär zionistisch geprägt sind, werden die Flüchtlinge nicht hereingelassen.
Damit ist Deine Frage nach den Perspektiven einer Rückkehr der Flüchtlinge von
1948 in ihre Dörfer die Frage nach dem Zusammenbruch des Systems.
Frage: Während des jüngsten Krieges im Libanon hat Deine Gruppe Proteste
organisiert. Wie sahen diese aus ? Wie reagierte die israelische Öffentlichkeit
auf den Krieg und auf den Protest dagegen ?
Eyal: Haha. Wir hatten eine niedliche kleine Antikriegsbewegung und ich meine
wirklich "klein". Wir hatten ene wöchentliche Demo in Haifa mit
jeweils 50 bis 200 Leuten, die meisten von ihnen PalästinenserInnen. Es gab
polizeiunterstützte Gegendemos, die manchmal wesentlich lauter und größer waren
als unsere, mit vielen israelischen Flaggen. Wo wir demonstrierten ? In der
Nähe der ausländischen Presse natürlich. Eine Frauengruppe in Haifa veranstaltete
eine Mahnwache in der Nähe der Promenade, wo die ausländischen Medien ihren
Sitz haben. Es gab ein paar landesweite Demos, davon allein drei in Tel Aviv.
Nach einer Woche Krieg kamen etwa 1000 Leute, nach zwei Wochen 5000 und nochmal
ähnlich viele nach drei Wochen. Die palästinensischen Parteien organisierten
ebenfalls
landesweite Demos in den arabischen Siedlungen. (Siehe hierzu:
http://qursanabox.blogspot.com/2006/10/roundtable-on-borderline.html )
Frage: In Israel gibt es kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Wie sahen
Deine persönlichen Erfahrungen mit der Armee aus ?
Eyal: Dazu habe ich einen Text auf meine Homepage gestellt:
https://www.earendil.ath.cx/radical/about_me.html
Diese Seite ist fünf Jahre alt, so dass kaum etwas über die Zeit nach meiner
Entlassung dort steht.
Abgesehen davon habe ich oft erlebt, auf Demos von Soldaten und Grenztruppen
umstellt und bedroht zu werden. Im September dieses Jahres beschloss die
israelsiche Regierung, Grenztruppen in ein Viertel in Tel Aviv zu schicken, um
dort zu patroullieren, angeblich zur Verbrechensbekämpfung. Das finde ich
ziemlich erschreckend.
Frage: Die Linke in Deutschland ist beim Thema Israel/Palästina tief gespalten.
Hast Du auf Deiner Reise etwas davon mitbekommen ? Was hälst DU davon ?
Eyal: Ich hatte keine Gelegenheit, etwas von dieser Debatte mitzuerleben, habe
aber das "Echo" bemerkt. Viele meiner GastgeberInnen erwähnten die
antideutsche Strömung und waren entweder fasziniert oder genervt davon,
meistens beides. Natürlich ist meine erste Reaktion auf die oberflächlichen
Informationen, die ich erhalten habe, dass die Unterstützung Israels falsch
ist, aber soweit ich festgestellt habe, sind ihre Positionen wesentlich
komplexer und nicht einfach nur krasser Zionismus. Deshalb möchte ich mich mit
einer Bewertung zurückhalten, bis ich mal mit jemandem aus diesem Umfeld
gesprochen oder etwas von ihnen gelesen habe.
Was ich übrigens gern tun würde, falls mir jemand etwas zukommen lassen möchte,
sofern es nicht zu langweilig ist...
Frage: Im Moment befindet sich die deutsche Marine im Einsatz vor der
libanesischen Küste. Wie wird diese Tatsache in Israel wahrgenommen ?
Eyal: Es wurde kurz in den Medien diskutiert, interssierte aber praktisch
niemanden. Nur sehr wenige Israelis wissen, dass der Libanon imemr noch unter
einer Seeblockade steht, noch weniger, dass Deutschland daran beteiligt ist. Es
war auch überhaupt nur deswegen ein Thema, weil es Deutschland war, die
italienische Beteiligung zum Beispiel wurde nie angesprochen. Schliesslich liegt
der Libanon im "Niemandsland": was jenseits der israelischen Grenzen
(manchmal: ausserhalb von Tel Aviv) passiert, kommt selten in der öfentlichen
Wahrnehmung an (wenn doch, dann bleibt es nicht lange dort).
Spätere Ergänzung: Jetzt gibt es hin und wieder Meldungen darüber, dass sich
Deutschland über den gelegentlichen Beschuss seiner Schiffe beschwert hat, aber
auch das ist hier kein großes Thema.
Das Interview führte die FAU-München
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