Lebenslauf
Margarethe Hardegger (1882-1963)
(auch Margarethe Faas-Hardegger )
Familien-Daten
20.2.1882: geboren in Bern
Vater: Andreas Gottlieb Hardegger (1845-1913) von Gams, Beamter des
Berner Telegrafenamtes.
Mutter: Anna-Susanna Blank (1838-1910) von Ins, Hebamme.
8.5.1903: Heirat mit August Faas (Redaktor bei der Schweiz.
Telegraphenagentur, später bernischer Fürsprecher und ab 1919
zürcherischer Richter).
13.9.1903: Geburt der Tochter Olga
27.10.1904: Geburt der Tochter Elisabeth «Lisa»
1924: Olga und Lisa erwirken die Abänderung ihres Nachnamens
in Hardegger.
13.1.1950: Heirat mit Hans Brunner.
23.9.1963: gestorben in Minusio.
Ausbildung
1886: Töchterinstitut
in Colombiers
1887-1900:
Telefonistin in Bern
1900-1902: Städtisches
Gymnasium mit bestandener Matura
1903: Beginn des Studiums der
Jurisprudenz und Nationalökonomie
Gewerkschaftliche Tätigkeit
1903: Beginn der politischen
Tätigkeit, Gründung der Berner Textilgewerkschaft, Bekanntschaft
mit den Führern der Schweizer Arbeiterbewegung
1904: grosse Kampagne gegen
die Direktion der Spinnerei Felsenau, wird Mitglied des Bundeskomitees
des SGB und Delegierte des Lebensmittelarbeiterverbandes. Erste Teilnahme
an einem nationalen Gewerkschaftskongress. 15. Juni 1904: Wahl zur ersten
Sekretärin des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes.
1905: Stellenantritt als Sekretärin
des SGB am 1. Januar 1905. Sie versucht vor allem, Frauen zum Eintritt
in die Gewerkschaften zu bewegen. In den ersten drei Jahren ihrer gewerkschaftlichen
Tätigkeit spricht sie auf 367 Versammlungen. Setzt sich für die
Gründung von Produktionsgenossenschaften ein.
1906: Gibt ab 1. Mai 1906 die
«Vorkämpferin» heraus und ein Jahr später in französischer
Sprache «L'Exploitée». Erste Kündigung, die zurückgenommen
wird.
1907: FH ist am ersten Frauenstreik
der Schweiz von Schokoladearbeiterinnen im Welschland beteiligt. Setzt
sich nach dem Internationalen Kongress in Stuttgart für das Frauenstimmrecht
ein.
1908: Macht sich für sexuelle
Aufklärung und Verbreitung von Verhütungsmitteln stark. Wird
Mitglied, u.a. mit August Forel, im Groupe Malthusien. Wird wegen Verbreitung
von „unsittlicher“ Literatur im Wallis verhaftet und gebüsst.
1909: Rücktritt als Sekretärin
im April 1909.
Internationale Gewerkschaftsarbeit
1905: Teilnahme am Internationalen
Kongress der Textilarbeitergewerkschaften in Mailand.
1906: Teilnahme am SPD-Parteitag in Mannheim.
1907: Teilnahme am ersten internationalen
Kongress der sozialistischen Frauen und am international sozialistischen
Kongress in Stuttgart. Auftritte in Paris, an Versammlungen der CGT und
der Universités populaires.
Antimilitaristisches Engagement
1903: Übersetzt die Verteidigungsrede
des sozialistischen Militärdienstverweigerers Charles Naine.
1906: Engagiert sich in der
antimilitaristischen Liga, die die Armee abschaffen will. Freundet sich
mit dem Arbeiterarzt Fritz Brupbacher und den Mitgliedern der anarchistischen
Gruppe Weckruf an.
1908: Organisiert den Schmuggel
von antimilitaristischem Propagandamaterial nach Oesterreich zuhanden des
Anarchisten Pierre Ramus (Rudolf Grossmann).
Anarchismus
1905: besucht zum ersten Mal
den Monte Verità in Ascona, wo sie sich u.a. mit dem Ernst Frick
von der anarchistischen Zürcher Gruppe Weckruf anfreundet.
1906: Freundschaft mit dem
deutschen Anarchisten Senna Hoy, dem Geliebten von Else Lasker-Schüler.
1907: gibt Ernst Frick ein
falsches Alibi vor Gericht, dank dem er im „Zürcher Bombenprozess“
freigesprochen wird. (Er und Genossen hatten die Zürcher Polizeikaserne
überfallen, um den in Auslieferungshaft sitzenden russischen Revolutionär
Georg Kilaschitzky zu befreien, wobei sie allerdings kläglich scheiterten).
Freundet sich mit dem in Paris lebenden Schweizer Anarchisten James Guillaume
an.
1908: beteiligt sich am Verkauf
von Briefmarken, die von den beiden tschechischen Anarchisten Vohrycek
und Bocek geraubt wurden, in der Schweiz. Mit dem Erlös sollen die
Wächter des Warschauer Gefängnisses bestochen werden, wo Senna
Hoy wegen politisch motivierten Raubüberfällen und Erpressungen
eine Strafe von 27 Jahren absitzt. (Später sollte sich MH, zusammen
mit Else Lasker-Schüler, weiter für seine Freilassung einsetzten.
Vergebens: Hoy stirbt 1915 in einem Moskauer Gefängnis.) Setzt sich
öffentlich für den Genfer Anarchisten Luigi Bertoni ein.
1909: Überfall auf die
Bijouterie Galli durch die „Briefmarkenräuber“ Vohryzeck und Bocek.
Verhaftung der beiden und Prozess in Prag. MH und Fritz Brupbacher werden
als Zeugen einvernommen.
Sozialistischer Bund
1908: Anfangs Jahr zieht August
Faas nach Wien, um sich als Opernsänger ausbilden zu lassen. MH bleibt
mit den Kindern allein in Bern zurück. Im Sommer erste Begegnung mit
Gustav Landauer, die beiden verlieben sich; lernt Erich Mühsam kennen.
Landauer bittet sie um die Gründung von „Kristallisationspunkten“des
Sozialistischen Bundes in der Schweiz. In der Zeit als Landauer seinen
Aufruf zum Sozialismus schreibt, steht er mit ihr in ständiger brieflicher
Verbindung, sie bereitet die Herausgabe der Zeitung Sozialist vor.
1909: Nach ihrer Entlassung
hält sich MH mehrheitlich in München auf, wo sie mit Erich Mühsam
die Gruppe Tat gründet und das Lumpenproletariat und die Prostituierten
Münchens für den Sozialistischen Bund gewinnen will. Sie wird
die Geliebte von Mühsam, lernt die wichtigsten Vertreter der Münchner
Bohème kennen, darunter auch den Freudschüler Otto Gross. Tritt
öffentlich für die Abschaffung der Ehe und für die Freie
Liebe ein. Wird Sekretärin der Reformorganisation Internationaler
Orden für Ethik und Kultur. Nachdem ihre Mutter als Hebamme in einen
Abtreibungsprozess verwickelt und freigesprochen wird, zieht sie mit ihrer
älteren Tochter Olga nach Berlin, in die Nähe Landauers. Kurz
darauf hat die Mutter einen Schlaganfall und MH kehrt im Dezember nach
Bern zurück. Sie nimmt ihr Studium wieder auf.
1910: Im sogenannten Geheimbund-Prozess
gegen Mühsam tritt sie, zusammen mit Landauer, Thomas Mann und Franz
Wedekind als Entlastungszeugin auf.
1910/1911: Landauer überwirft
sich mit MH und Erich Mühsam. Zankapfel sind die Freie Liebe und die
Psychoanalyse.
Der Zürcher „Bombenprozess“
1912: Im April Verhaftung unter
der Anschuldigung der Falschaussage im ersten Bombenprozess 1907. Während
sie in Untersuchungshaft sitzt erfolgt die Scheidung von August Faas. Ernst
Frick und Robert Scheidegger werden verurteilt.
1913: Im Februar wird MH wegen
falscher Zeugenaussage im Bomben-Prozess von 1907 vom Bezirksgericht Pfäffikon
zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. Bruch mit Landauer, der sie
sämtlicher Funktionen innerhalb des Sozialistischen Bundes enthebt.
Kommune
1914: Gründung einer Kommune
im Haus, das sie von ihrem Vater geerbt hat, am Pflugweg 5 in Bern. Die
Gruppe versucht sich nach Ausbruch des 1. Weltkriegs als Siedler im Tessin
zu etablieren. Der Versuch scheitert. MH nimmt ihr Studium wieder auf.
1915: MH wird Mitglied des
Internationalen Arbeiterverein Bern.
Abtreibung
1915: Verurteilung zu 12 Monaten
Gefängnis wegen Beihilfe zur Abtreibung.
Exil in Chur
1916: MH zieht mit den Kindern
nach Chur zu ihrem neuen Freund Hans Brunner, einem deutschen Schreiner
und Militärdienstverweigerer. Sie arbeitet als Dekorateurin für
Chocolat Tobler.
1917: die politischen Zöglinge
von MH formieren sich in Zürich als Gruppe Forderung und sind massgeblich
an den Novemberunruhen beteiligt.
Siedlungen
1918: Nach dem Generalstreik
zieht MH mit Hans Brunner und Lisa Faas nach Herrliberg. Zusammen mit dem
Dienstverweigerer Max Kleiber, einem Ragaz-Anhänger, und andern Genossen
Gründung der Siedlung Alte Vogtei. Das landwirtschaftliche Gut wird
ihnen vom Pelzhändler Bernhard Mayer, einem Landauer-Anhänger,
zur Verfügung gestellt. Interne Streitereien bewegen MH nach ein paar
Monaten zum Auszug. Erneuter Kontakt mit Landauer, der sie als Mitarbeiterin
für die Neuausgabe des Sozialist heranziehen will.
1919: Ausrufung der Münchner
Räterepublik durch Landauer und Mühsam. Niederschlagung der Räterepublik.
Ermordung Landauers, Erich Mühsam und weitere Genossen von MH werden
zu Festungshaft verurteilt.
1919: MH gründet das Villino
Graziella, eine Siedlung des Sozialistischen Bundes, in Minusio, in der
Nähe des Monte Verità. Verbindungen zu den Bewohnern des Monte
Verità und Umgebung.
1920: MH organisiert in Zürich
eine Gedenkfeier für Landauer.
1922: Referiert auf dem Monte
Verità über Siedlungswesen. Engagiert sich in der Freiland-/Freigeldbewegung.
1925: pflegt bei sich zuhause
El Lissitzky, der tuberkulosekrank im Tessin weilt. Scheitern der Siedlung,
die Genossen ziehen aus. Zurück bleibt ein Familienunternehmen: Brunner
betreibt eine Schreinerei, MH macht ihm die Buchhaltung.
Leben in der Villa Graziella
1927: MH versteckt für
die Rote Hilfe, deren Mitglied auch Erich Mühsam ist, den deutschen
politischen Flüchtling Paul Eckstein.
1928: Olga Hardegger lässt
sich zur Hebamme ausbilden, Gründung mit MH eines Entbindungsheimes
für unverheiratete Mütter in der Villa Graziella.
1929: vorläufiger Abschluss
der jahrelangen Streitereien mit August Faas über Unterhaltszahlungen
für die Töchter. Lisa Hardegger muss erstmals in eine psychiatrische
Klinik eingewiesen werden, Befund: Schizophrenie. Besuch von Max Nettlau,
„Pilgerfahrt“ nach der Baronata, dem ehemaligen Wohnsitz von Bakunin. Vortrag
über Landauer auf Einladung von Prof. Leonhard Ragaz in Zürich.
Kampf gegen den Faschismus, Flüchtlingsarbeit
Ab 1933: MH engagiert
sich für die Flüchtlinge aus Deutschland, u.a. den Verleger Leon
Hirsch.
1934: Tod von Erich Mühsam
im Konzentrationslager.
1935: Besuch bei der Witwe
Zenzl Mühsam in Prag, ermuntert sie, nach Moskau zu gehen. Dort wird
Zenzl Mühsam Opfer der stalinistischen Säuberungen, Verbannung.
MH setzt sich für Zenzl Mühsam ein, wird Mitglied des IFFF, schreibt
einen offenen Brief an Stalin.
1936: Gründung des „Comitato
Pestalozzi“ zur Betreuung von Waisen aus dem spanischen Bürgerkrieg
in der Schweiz. Teilnahme am internationalen Kongress des Rassemblement
Universel pour la Paix in Brüssel.
1937: Gründung einer Zweigniederlassung
der American Guild for Cultural Freedom von Prinz Hubertus zu Löwenstein,
die sich für verfolgte Schriftsteller im Exil einsetzt. Unterstützt
im Namen der Guild im Tessin exilierte Schriftsteller. Erbittet Treffen
mit Thomas Mann.
1938: zusammen mit Hans Brunner
und Fritz Jordi von der Siedlung Fontana Martina Gründung der Notgemeinschaft
Tessiner Siedler und Kleinbesitzer. Herausgabe der gleichnamigen Zeitung.
1939: Rednerin an einer Versammlung
der Spanienkämpfer in Locarno. Zeugin im Prozess gegen Gigi Martinoni,
der im Tessin Freiwillige für die Internationalen Brigaden in Spanien
angeheuert hat.
1941: kurz vor seiner Ausweisung
gelingt es Hans Brunner, die Schweizer Staatsbürgerschaft zu erlangen.
MH und ihre Tochter Olga Uboldi betreuen Insassen von verschiedenen Flüchtlingslagern
im Tessin.
Esoterik
1937: wird spätestens
in diesem Jahr als „Schwester Hyazinthe“ Mitglied im Ordo Templis Orientis
O.T.O., einer nonkonformistischen Freimauerervereinigung, die sich u.a.
die sexuelle Befreiung auf die Fahne geschrieben hat. Enger Kontakt mit
der Ordensvorsitzenden Alice Sprengel, von der sie sich regelmässig
Horoskope ausstellen lässt. Gewinnt Prinz Hubertus zu Löwenstein
und seine Gattin Prinzessin Helga für den Orden. Die beiden ziehen
für ein paar Monate nach Minusio.
Nachkriegszeit
1947: Teilnahme am Gründungskongress
der intern. Friedensbewegung („Friedenspartisanen“) in Paris. Wird Sekretärin
der «Partisanen für den Frieden» der italienischen Schweiz.
Teilnahme am ersten internationalen Kongress der Friedenspartisanen in
Deutschland. Setzt sich für den Verhafteten Edgar Woog ein.
1950: Engagement für Petition
zum Verbot von Nuklearwaffen, MH koordiniert Unterschriftensammlung im
Tessin. („Stockholmer Appell“). In den folgenden Jahren aktiv in der Friedensbewegung,
Teilnahme an mehreren internationalen Konferenzen.
1953:Mitarbeit bei einer erneuten
Petition gegen Aufrüstung. Reaktivierung des Comitato Pestalozzi und
Mitarbeit bei der „Arbeiter- und Bauernhilfe“ (u.a. Hilfe für die
Kriegsgeschädigten in Korea)
1954: Unterschriftensammlung
für Prof. André Bonnard, des Präsidenten der Schweizer
Friedensbewegung, der wegen Landesverrat vor Gericht gezogen wird.
1955: Mitglied bei den Frauen
für Frieden und Fortschritt; Mitglied bei der Fédération
des femmes pour le suffrage féminin. Verschiedene öffentliche
Auftritte an Frauenversammlungen.
1959: MH engagiert sich im
Hinblick auf die Abstimmung über das Frauenstimmrecht.
1960: Tod von Hans Brunner
1963: nimmt am ersten Ostermarsch von Lausanne nach Genf teil.
regula bochsler, August
2003
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