Venezuela: soziale Bewegungen - der schwierige Weg zur Autonomie
Soziale Kämpfe im 20. Jahrhundert
Die moderne Geschichte der sozialen Kämpfe in Venezuela ist mit den
umfassenden Veränderungen des Landes durch die groß angelegte
Ausbeutung der Öl Ressourcen zu Beginn der 1920er Jahre bestimmt. Das
wurde besonders nach dem Tod des Diktators J.V. Gomez, der das Land mit
eisernen Hand von 1908 bis Dezember 1935 regiert, evident. Sein Abgang
war das Signal für die Rückkehr verschiedener kollektiv organisierter
Einrichtungen in die sozio-politische Welt. Während der Diktatur wurden
sie unterdrückt und waren verboten. Dabei handelte es sich vor allem um
Gewerkschaften, studentische Organisationen, aber auch feministische,
kulturelle, landwirtschaftliche und professionelle Einrichtungen.
Seit dieser Zeit, Ende der 30er bis in 50er Jahre, hatten es diese
Bewegungen sehr schwer mit der Unabhängigkeit. Auf der einen Seite
konsolidierte sich der Staat als der lokaler Verwalter der Öl Reserven
und wurde komplexer. Der unterschiedliche Zugang, zu dem durch die Öl
Förderung entstandenen Reichtum, legte die gesellschaftlichen Klassen
dieser Periode fest: Bourgeoisie, Mittelklasse und Proletariat. Der
Staat wurde zum großen Unterstützer, Finanzier und Produzent des
Kapitalismus. Daher war er an den von den sozialen Bewegungen
angebotenen Alternativen nicht interessiert. Konsequenterweise nutzte
er alle Mittel um sie zu unterdrücken, meistens indem er die Krümel vom
Tisch an Dritte vergab, doch manchmal auch durch brutale Repression.
Diese Jahre waren durch innenpolitische Kämpfe um die Kontrolle des
Staates bestimmt: des Militärs, dem typischen Beobachter der Regierung
in unserem Land, und den politischen Parteien, den Sozialdemokraten
(AD, Accion Democratica), den Christdemokraten (COPEI), den Liberalen
und der kommunistischen Partei. Obwohl diese Parteien erst nach den
sozialen Bewegungen entstanden waren, kontrollierten sie sie bald. Sie
formten die soziale Aktivität in Parteienmitgliedschaft um und brachten
die sozialen Bewegungen auf ihren Kurs. Ein typisches Beispiel dafür
ist ihr einzigartiger Aufstieg innerhalb der Gewerkschaften, der sich
von den 40er bis in die 80er Jahre vollzog.
Nach 1983 kam das ökonomische Modell, das den Pakt von Punto Fijo
unterstützt hatte, und die Maschinerie mit dem die sozialen Bewegungen
gebändigt worden waren, in eine Krise. Gleichzeitig verlangten
transnationale Kräfe die Adaption einer neoliberalen Ökonomie und die
Beendigung der populären Klientelpolitik, bei der Regierungseinnahmen
zur Befriedung der Bevölkerung verteilt worden waren. Die in diesem
Kontext entstandenen Lücken in der sozialen und politischen Struktur
des Landes ermöglichten ein Wiedererstarken autonomer sozialer
Aktivitäten, die nicht von den politischen Parteien abhängig waren. Das
gilt für bereits bestehende Organisationen, aber auch für neue soziale
Bewegungen: ökologische, nachbarschaftliche, indigene oder
schwul-lesbische Gruppen, um nur einige zu nennen. Das dramatischste
Zeichen der anstehenden Veränderungen war der spontane Volksaufstand,
der als „El Caracazo“ (27.2.1989) bekannt geworden ist. Es war die
kraftvollste Manifestation sozialer Unzufriedenheit in unserem Land,
dem die autoritäre Macht nur mit blutiger Unterdrückung begegnen konnte.
Das Labyrinth sozialer Bewegungen
Die Kontrolle über die sozialen Bewegungen nahm ab und die Machthaber
benötigten eine neue Kraft, die sie in Hugo Chavez fanden, dem Führer
des gescheiterten Militärputsches vom 4. Februar 1992. Die
Unzufriedenheit in der Bevölkerung über die Lage der Nation führte zur
Sympathien mit dem Putschversuch, obwohl das Programm der Putschisten
unbekannt war. Es entstanden illusionäre messianische Hoffnungen auf
Chavez. Nach einem Aufenthalt im Gefängnis wurde Chavez im Jahr 1994
freigesprochen und zum Präsidentschaftskandidat ernannt, den die
Bourgeousie, die transnationalen Unternehmen, sowie die meisten
sozialen Bewegungen mit ihren AktivistInnen unterstützten. Er versprach
ihnen das Goldene vom Himmel, falls er die Wahl gewinnen sollte.
Chavez kam im Februar 1999 ins Amt und es vollzog sich bis in die Mitte
des Jahres 2007 eine Periode, in der sein Verhältnis zu den sozialen
Bewegungen als hoffnungsvoll bezeichnet werden könnte. Er passte sich
den Hoffnungen der Bevölkerung an und ordnete ihre Kämpfe seinen
eigenen Bedürfnissen und denen die über ihm standen unter, um seine
Macht zu verfestigen. Das Resultat verschiedener Wahlen zeigt den
Glauben der Menschen in diesen Prozess. Sozialdemokraten und die rechte
Opposition verfolgten zur damaligen Zeit die gleichen Ziele: „Lasst uns
zuerst Chavez loswerden, dann sehen wir weiter“.
Die ausgeschalteten sozialen Bewegungen akzeptierten die Festlegung
ihrer Methoden und Ziele durch den Staat, und damit das Ende der
Autonomie, die sie in den vergangenen Jahrzehnten erlangt hatten. Es
muss hinzugefügt werden, dass der Anstieg der Ölpreise große
finanzielle Ressourcen freisetzte, durch die bestimmte soziale
Bewegungen mit linken Schwätzern an der Spitze, besonders gefördert
worden sind.
Ab Ende des Jahres 2007 gab es Zeichen, dass die glückliche Hochzeit
zwischen der Chavez Regierung und den sozialen Bewegungen zu Ende ging.
Im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren scheinbar scharfer
politischer Konfrontation und tatsächlicher Demobilisierung sozialer
Kämpfe, kamen kollektive ökonomische und soziale Forderungen nun
verstärkt wieder auf. Die Ausgaben staatlicher Gelder aus den
Öleinnahmen sanken nicht nur durch die fallenden Preise des „schwarzen
Goldes“ sondern ebenso infolge von Korruption, Inkompetenz und
Inkohärenz der Regierung, die nur eine aufgeblähte Version der
Vorgängerregierung war. Infolge dessen wurde es für die Chavez
Regierung immer schwerer die Kontrolle über die sozialen Bewegungen zu
behalten. Sie wurden mit der ihnen zugedachten Rolle als bloße
Opposition im Parlament unzufrieden.
Zur Bestätigung der von uns getroffen Aussagen genügt ein Blick auf die
Statistik über soziale Konflikte in Venezuela, die von der NGO PROVEA
(www.derechos.org.ve) jährlich erstellt werden.
Wir halten diese Statistiken für vollständig und zuverlässig. Aus
Platzgründen können sie hier nicht aufgeführt werden, doch sie
bestätigen, dass unter dem so genannten „Sozialismus des 21.
Jahrhunderts“ von Hugo Chavez, sich nicht mehr verbirgt, als die
Verhältnisse in anderen lateinamerikanischer Ländern, die von
neoliberalen rechten Regierungen angeführt werden.
Zerstörte Träume und die Kriminalisierung des Protests
Der PROVEA Report bestätigt, dass der Kampf der sozialen Bewegungen um
Unabhängigkeit in Venezuela heute mit einer wachsenden Kriminalisierung
zu kämpfen hat. Dieser Vorgang wird von der Gerichtsbarkeit
bunterstützt, das ein Arsenal an repressiven Methoden entwickelt hat.
Jede unerwünschte Aktion in der politischen oder sozialen Sphäre kann
von den Regierenden als „Putschversuch“ oder „Imperialismus“ denunziert
werden. Dabei gibt es Versuche die soziale Basis der Chavez Anhänger
zur Denunziation und zur Unterdrückung zu missbrauchen; dadurch
entstand ein Para-Militarismus und eine „Para-Repression“.
Trotzdem werden nach wie vor an den verschiedensten Plätzen soziale
Kämpfe ausgefochten: die Kämpfe der ArbeiterInnen von Ferrominora und
SIDOR, der ehemaligen ArbeiterInnen von CANTV, im industriellen Gebiet
von Aragua und die Kämpfe der indigenen Bevölkerung, wie der Yukpas in
der Sierra Perija. Überall gibt es Proteste gegen die
Wohnungssituation, über die Mißstände im Sozialwesen und in und
außerhalb der Gefängnissen gegen das barbarische Strafsystem. Die
Schreie der Opfer des Repressionsapparates, aus den Kämpfen zwischen
den Geschlechtern und von den protestierenden StudentInnen werden immer
lauter. Sie alle leiden unter dem juristischen System, das noch
bösartiger ist als zu den Zeiten des Punto Fijo Paktes. Gleichzeitig
werden Landwirten Versprechungen gemacht und sie werden aufgefordert
sich zu benehmen – wenn nicht werden sie von Schlägern und der Polizei
bestraft.
Die gedruckte Version und die Webseite von El Libertario hat diese und unzählige andere Fälle dokumentiert.
Gab es, gibt es oder wird es je eine positive Perspektive für die
sozialen Bewegungen unter dem so genannten „bolivarischen Sozialismus“
geben? Das können wir nur mit NEIN beantworten, da jeder Versuch von
den Helden des autoritären Regime verhindert werden wird. Sozialer
Aktivismus muss sich vor der Ideologie und Kontrolle des Staates beugen
und sich gleichzeitig in devoter Unterwürfigkeit den demagogischen
Versprechungen, deren Erfolg alleinig von bürokratischen Bevormundung
abhängt, anheischen. Eine Bevormundung, die einhergeht mit wachsender
Korruption und Ineffizienz der öffentlichen Sektoren und seiner
untergeordneten Organisationen, mit der sozialistischen Agenda, die
sich den transnationalen Unternehmen untergeordnet hat und mit dem
Aufkommen der „Bolibourgeousie“, die im Schatten einer monströsen
staatlichen Korruption genährt worden ist. Die freie und vollständige
Entfaltung der sozialen Bewegungen kann nur geschehen, wenn sie sich
von der der Führerschaft des Chavismus befreit, ohne dabei in die Hände
der neoliberalen Rechten oder Sozialdemokraten zu fallen. In der Hitze
des Kampfes müssen sie ihre eigenen Pläne und Ideen entwickeln, so wie
es die vielen hoffnungsvollen Zeichen sozialer Proteste zeigen, die
hier aufgeführt worden sind.
In den vergangen Jahren hat El Libertario die schwierige
Aufgabe übernommen, die lähmenden Illusionen des Staates, des Kapitals
und ihrer Verbündeten zu demaskieren, sei es die sozialistische Maske
der Regierung, die pseudo-demokratische Maske der Sozialdemokraten oder
der rechten Opposition. Mit Hartnäckigkeit zeigen wir den Weg für einen
enthusiastischen Aufbau sozialer Bewegungen auf und schaffen somit Raum
für direkte Aktionen, Selbstverwaltung und gegenseitige Hilfe, die wir
als AnarchistInnen unterstützen.
Zum Thema „Anarchismus in Venezuela“ erschienen auf www.fau.org bislang die folgenden Übersetzungen aus der Zeitschrift El Libertario:
Venezuela: Gewerkschaften zwischen serviler Bürokratie und Auftragsmord
Die Beziehungen zwischen Kuba und Venezuela aus anarchistischer Perspektive
Vetelca: Die Geschichte der ersten bolivarischen Maquila Fabrik in Venezuela
Venezolanische Arbeit zwischen Chavez und den Golpistas
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