Peter Niedersteiner und Falko Zemmrich: Anarchistische Anthropologie - Wer hat unsere Macht?
[gekürzte russische Version (Анархистская антропология: У кого наша власть?) unter www.avtonom.org/old/index.php?nid=2283]
Völlig entnervt stürze ich aus der Teeküche, nachdem wir uns in zweistündiger Auseinandersetzung nun doch noch auf eine, für alle zufrieden stellende, Lösung einigen konnten und mache mich von der Redaktionssitzung auf den langersehnten Nachhauseweg. Vor der Tram merke ich, dass es ja Montag ist und ich kein Geld habe, um mir ein MVV-Wochenticket zu besorgen. Naja, wird schon gut gehn’ diese Woche. Neben mir entdecke ich einen Freund und Mitstudenten, der mir mit den Worten „Des bast scho, nexte Woch bist du hoid dro“ das nötige Fahrgeld in die Hand drückt, mit dem ich völlig legal ins gemütliche Zuhause kutschieren kann. Kaum in der starkbevölkerten WG angekommen, muss ich mir das Geschimpfe des Herrn Mitbewohner anhören, dessen PC mal wieder von einem Virus lahm gelegt wurde. Mit einem hämischen Grinsen im Gesicht starte ich meinen Rechner, den die Open-Source-Gemeinde rund um Linux, Open-Office, Poorman’s CMS und wie sie alle heißen, recht passabel und natürlich virenresistent am Laufen hält. Heute soll ich also noch meinen Artikel für die Ethnologik fertig bekommen. Es dauert keine fünf Minuten, da muss ich zum ersten Mal Wikipedia bemühen, um die Lücken meines Wissenschaftsvokabulars zu füllen. Der entnervte Mitbewohner erklärt mir, dass heute wenigstens die dicke, langersehnte Kaffeebestellung eingetroffen ist und die ersten ungeduldigen Freunde des schmackhaften Espressos der zapatistischen Kaffeekooperative bereits vorbeigeschaut haben, um sich ihre Portionen abzuholen. Haben alle gezahlt? Wenigstens die meisten, der Rest pumpt, grüßt und dankt mal wieder. Ich meinerseits bedanke mich für die ablenkende Kaffeeidee. Mit meinem Lebenselixier in der Hand, bleibe ich gerne noch ein bisschen an der JungleWorld hängen, die wieder mal viel Stoff zur Diskussion bietet. Aus einer Art Hassliebe heraus haben wir uns entschlossen, zusammenzulegen und Teilhaber an diesem streitbaren Blatt zu werden, um es vor dem Untergang zu bewahren. Zurück am PC schaffe ich keine zwei Zeilen, da klingelt es an der Tür. Woher kommt ihr? Warschau. Soso, hab’ euch ehrlich gesagt vergessen aber cool, dass ihr da seid. Kaffee? Das lustige Pärchen, das sich auf unser Inserat beim Hospitality-Club angemeldet hat, um bei uns zu nächtigen, bietet also den heutigen Grund, meinen Artikel dann doch erst morgen zu verfassen. Denn selbstverständlich werde ich im Sommer ein Bett in Warschau brauchen können, wenn ich meine Osteuropa-Rundreise per Mitfahrzentrale starte.
In dieser kurzen, überspitzt verfassten Einleitung, in der wir einen
vorzeige-idealistischen Studenten konstruiert haben, würden die
heutigen Vertreter der anarchistischen Anthropologie eine Vielzahl von
Beispielen finden, wie sich Menschen durch gegenseitige Hilfe,
Kooperation und Selbstorganisation zusammenfinden und auf gleicher
Augenhöhe interagieren.
Das Feld der anarchistischen Anthropologie ist keineswegs neu für die
Ethnologie, jedoch gibt es, wie gewohnt, keine einheitliche Definition.
Je nach Vertreter unterscheiden sich die Forschungsgebiete und
-methoden voneinander. Wir wollen nun den Versuch wagen, einen kleinen
Einblick zu geben in die Theorie, Methodik und Geschichte der
anarchistischen Anthropologie. Zuvor wollen wir aber noch eine
Definition von Anarchismus anbieten, die Pjotr Alexejewitsch Kropotkin
(Пётр Алексеевич Кропоткин), mit dem wir uns auch als erstes
beschäftigen werden, verfasst hat und die auch 1910 von der
Encyclopædia Britannica verwendet wurde:
„Anarchism: The name given to a principle or theory of life and
conduct under which society is conceived without government — harmony
in such a society being obtained, not by submission to law, or by
obedience to any authority, but by free agreements concluded between
the various groups, territorial and professional, freely constituted
for the sake of production and consumption, as also for the
satisfaction of the infinite variety of needs and aspirations of a
civilized being […]”.
Eine weniger ideologische Definition liefert der Linguist und
politische Intellektuelle Noam Chomsky auf die Frage, wie denn sein
persönlicher Anarchismus aussähe: „Es ist in meinen Augen vollkommen
richtig, in jedem Aspekt des Lebens die jeweiligen autoritären,
hierarchischen und herrschaftsbestimmenden Strukturen ausfindig zu
machen und klar zu umreißen, und dann zu fragen, ob sie notwendig sind
[…] Das habe ich immer als die Essenz des Anarchismus verstanden“.[1]
Kurz gesagt: Hierarchien aufdecken, hinterfragen und wenn möglich: abschaffen.
Pjotr Kropotkin: Gegenseitige Hilfe statt Zahn um Zahn
Der russische Naturwissenschaftler und politische Theoretiker Kropotkin
stellt sich mit seinem 1902 erschienenen Buch „Gegenseitige Hilfe in
der Tier- und Menschenwelt“[2] gegen die damals vorherrschenden Thesen
der Sozialdarwinisten rund um Herbert Spencer, indem er zu beweisen
versuchte, dass die Welt nicht zu einem ewigen Kriegszustand verdammt
ist und nur die Stärksten und Fittesten überleben können. Ohne
gegenseitige Hilfe, so schreibt der überzeugte Evolutionist Kropotkin,
wären viele Arten nie in der Lage gewesen, solch umfassende
Populationen zu entwickeln. Seine bildhaften und oftmals
vermenschlichenden Beschreibungen, beispielsweise der Nistvereinigungen
der Seeschwalben und Rostgänse in Sibirien oder die leidenschaftliche
Verteidigung des eigenen Baus durch Ameisensoldaten, untermauert er mit
stichhaltigen Belegen dafür, dass sowohl jedes einzelne Tier, die ganze
Art und zumeist das gesamte Ökosystem von gegenseitiger Hilfe in der
Tierwelt profitieren. Er untersucht vor diesem Hintergrund weiter die
„gegenseitige Hilfe bei den Wilden“, die „gegenseitige Hilfe bei den
Barbaren“ , so z.B. die Gemeindearbeit bei den Kabylen und Buriaten,
die „gegenseitige Hilfe in der Stadt des Mittelalters“, so v.a. die
Gildenordnung der freien Städte, die Dorfmark usw. und die gegenseitige
Hilfe seiner Zeit, die er in Genossenschaften, Volksaufständen,
Arbeiterzusammenschlüssen aber auch in alltäglichen Bräuchen
verwirklicht sieht.
Kropotkin entwickelt seine Theorie des Anarchismus, indem er nicht das
„vulgärdarwinistische“ Prinzip des Kampfes aller gegen alle, sondern
die gegenseitige Hilfe als das entscheidende Prinzip menschlicher
Evolution und auf ihm aufbauend die Institutionen, die Solidarität und
Zusammenarbeit stiften, ansieht. Trotz der seiner Zeit geschuldeten
evolutionistischen Herangehensweise, bleibt es doch sein großer
Verdienst, nachgewiesen zu haben, wie wichtig jene Elemente der
Kooperation und Hilfe für das erfolgreiche Funktionieren menschlicher
Gemeinwesen sind. Sein Ansatz wirkt bis heute sowohl auf Natur- als
auch auf Kulturwissenschaftler ein.
Marcel Mauss und sein Einfluss auf die anarchistische Anthropologie
Einige Jahre später entwickelte Marcel Mauss ähnlich revolutionäre
Gedanken und provozierte mit seiner Kritik am homo oeconomicus die
Intelligenzija seiner Zeit. Mauss selbst ist nicht zu den Vertretern
der anarchistischen Anthropologie zu zählen, jedoch beeinflusste er
diese mit seinem 1925 erschienenen Werk „Die Gabe“ nachhaltig. Er
versuchte Strukturen aufzudecken, die außerhalb von Staatlichkeit und
Marktprinzip funktionieren. Dabei konzentriert sich Mauss auf den
wirtschaftlichen Bereich. Er legt sein Augenmerk auf das Element der
Gegenseitigkeit (Reziprozität) und zeigt, ähnlich wie Bronislaw Kaspar
Malinowski, dass menschliches Wirtschaften nicht unbedingt und nicht
überall auf ökonomischen Profit ausgerichtet ist. Im Gegenteil gibt es
„Gabenökonomien“, in denen solches Profitstreben abgelehnt wird.
Pierre Clastres: Gesellschaftliche Institutionen gegen Hierarchie
In den 1970er Jahren machte Pierre Clastres Furore mit seinen
provokanten Thesen gegen ein westlich-staatszentriertes Denken. In
seinem 1974 erschienenen Werk „Staatsfeinde“[3] untersucht er
südamerikanische Gesellschaften dahingehend, inwieweit sich diese
organisieren, ohne staatliche Strukturen und „zwangausübende“ Macht
zuzulassen. Bei vielen Gruppen der südamerikanischen Indianer existiert
demnach politische Macht auch ohne Befehl und Gehorsam. Diese
Gesellschaften versuchen zu verhindern, dass Hierarchie und
zwangausübende Gewalt entsteht. Sie verfügen über kulturelle
Institutionen, die einer Machtkonzentration vorbeugen und den
gemeinschaftlich bestimmten Häuptling aufs Schärfste kontrollieren.
Interessant ist auch die Betrachtung des Naturbegriffes bei Pierre
Clastres. Für gewisse südamerikanische Gemeinwesen trifft demnach zu,
dass diese Zwang und Macht mit den in der Natur herrschenden Gesetzen
in direkten Zusammenhang bringen und diese demnach ihre Kultur bedrohen
würden. Dies steht im Gegensatz zum Verständnis der westlichen
Eroberer, welche oft die Natur mit der Abwesenheit von Ordnung und
Hierarchie gleichsetzten, woraus die evolutionistische Schlussfolgerung
abgeleitet wurde, dass sich alle Menschen, wie in der Natur üblich,
abschlachten müssten und nur eine hierarchische „Kultur“ das
Naturgesetz der Wilden zügeln könne.
Auch wenn man Clastres oft einen gewissen Romantizismus[4] vorwarf und ihm unterstellte, nur zu sehen, was er sehen wolle und bspw. die Unterdrückung der Frauen und Kindstötungen zu vernachlässigen, haben doch Marcel Mauss, der sich auf den wirtschaftlichen Bereich konzentrierte und Pierre Clastres, der eher den politischen Bereich betrachtete, einen ähnlichen Schritt gemacht, um Strukturen aufzuzeigen, die außerhalb westlich-staatlicher Denkmuster und egalitär funktionieren.
Harold Barclay: Anarchie auf der politischen Ebene egalitärer Gesellschaften
„Aber obwohl von allen Theorien der Anarchismus die größte Sympathie
für die Gemeinschaft zeigt, ist er nicht gegen Struktur, Ordnung oder
Gesellschaft gerichtet“.[5]
Harold Barclay versucht in den beginnenden 1980er Jahren in seinem
Werk „Völker ohne Regierung“[6] Strukturen aufzudecken, die aus dem
Raster der Staatlichkeit fallen, die alternative Organisationsformen
erklären, die menschliches Zusammenleben in seiner Organisation und
Ordnung erfassen können, ohne in staatlichen oder hierarchischen
Prinzipien verhaftet zu bleiben. Ausgehend von einem theoretischen
Standpunkt, den wir am ehesten der brit. social anthropology zuordnen
würden, konzentriert sich Barclay auf die politischen Strukturen einer
Gemeinschaft.
Er trennt dabei die Begriffe Anarchismus und Anarchie deutlich
voneinander und versteht unter Anarchismus eher eine sozialpolitische
Theorie des 19. Jh. und unter Anarchie einen wissenschaftlich
analytischen Begriff, der dazu geeignet ist, ebensolche wirklichen
Strukturen zu erklären, die der Anarchismus ja gerade schaffen
möchte.[7]
Er entwirft demzufolge ein Kontinuum mit den beiden Polen Anarchie und
Archie. Auf der einen Seite steht Anarchie für die Abwesenheit des
Staates und der Regierung, wohingegen bei der Archie als dem anderen
Pol dieses Kontinuums, eindeutig eine Regierung und ein Staat vorhanden
sind. Alle Beispiele von Gemeinschaften und Gesellschaften lassen sich
nun in einem Graubereich zwischen diesen beiden Polen anordnen, wobei
man doch immer eine Tendenz zur einen oder andere Seite angeben
kann.[8] „Weder Anarchie noch die anarchistische Theorie sind
grundsätzlich gegen Organisation, Autorität und Politik oder gegen
politische Organisation gerichtet. Sie richten sich vielmehr gegen
einige Erscheinungsformen derselben, besonders gegen Gesetz, Regierung
und den Staat.“[9] Barclay möchte also den Blick schärfen für Formen
menschlicher Organisation, die sich außerhalb staatlicher Strukturen
befinden und bezeichnet diese als egalitär. Freilich mit der weit
reichenden Einschränkung, dass für ihn auch Formen der Unterdrückung
von Jüngeren und Frauen Teil anarchischer und egalitärer Gemeinwesen
sein können.[10] Anarchie bezeichnet demnach nur ein „[…] Gemeinwesen
ohne Herrschaft und Regierung, […] muß aber nicht unbedingt auch
Freiheit bedeuten“[11]. Soziale Sanktionen wirken also in anarchischen
und auch archischen Gemeinwesen, doch sind diese in ersteren eher
diffuser und religiöser Art und werden in zweiteren um die Formen
legaler Sanktion erweitert.[12]
Barclay konzentriert sich auf die Erforschung ethnographischer
Beispiele und versucht zu ergründen, inwieweit diese anarchische
Gemeinwesen darstellen. Er betrachtet dabei vor allem solche
Gemeinwesen, die entweder heute gar nicht mehr existieren oder
mittlerweile in staatliche Strukturen eingebunden sind. Mit seinem
Versuch anarchische Beispiele zu finden, hat er am meisten Erfolg bei
den (historischen) Jägern und Sammlern (Inuit, San, Pygmäen,
australische Jäger und Sammler), doch ordnet er auch Gartenbauern
(Lugbara, Konkomba, Tiv Plateau-Tonga), Hirtenvölker (Nuer) und
agrarische Gesellschaften (Imazighen, Santal), aber auch die freie
Stadt des Mittelalters[13] dem anarchischen Typ zu.
Auch wenn die Einteilung teilweise bestritten werden kann, muss man
Barclay doch zugute halten, weniger, dass er neue Strukturen entdeckt,
die sich außerhalb der Staatlichkeit bewegen, so doch vor allem die
übersichtliche und prägnante Darstellung zahlreicher Beispiele der
ethnologischen Literatur. Sein Begriff von Anarchie ist dabei sehr
analytisch und auf den politischen Bereich, wie auch hauptsächlich auf
ethnographische Beispiele beschränkt.
David Graeber: Anarchistische Strukturen aufdecken, untersuchen und wenn möglich: ausbauen
Einer der Köpfe, die ihre Freude an unserer Einleitung zu diesem
Text haben würden, ist David Graeber. Derzeit noch außerordentlicher
Professor an der Yale University, brachte er mit seinem 2004 von
Marshall Sahlins herausgegebenen „Fragments of an Anarchist
Anthropology“[14 u. Anm. d. Verf. v. 25.11.08] neuen Schwung in die
Diskussion um die Methoden und Theorie der Anthropologie. Für Graeber
ist Anarchismus nicht nur schlichte Utopie, sondern existiert bereits
seit Menschengedenken. Ähnlich wie seinerzeit Kropotkin, durchforstet
er die Gegenwart auf der Suche nach Beispielen von Zusammenschlüssen,
deren Basis die Abwesenheit von Hierarchie darstellt. Anders als
Barclay interessiert er sich also nicht nur für die politische Ebene,
sondern fordert unter anderem die Untersuchung von Wirtschaftssystemen,
Literatur oder der Organisation von Freiwilligendiensten nach
hierarchielosen Strukturen.
Seiner Ansicht nach nehmen anarchistische Organisationsformen, entgegen
der öffentlichen Meinung, in hohem Maße zu, finden jedoch wenig
Beachtung oder entgingen dem öffentlichen Bewusstsein, da sie zumeist
in einem kleineren und überschaubaren Rahmen auftreten. Seine These
erinnert an Peter Lamborn Wilsons (alias Hakim Bey) Ansatz der temporär
autonomen Zonen (T.A.Z.)[15]. Unter einer TAZ versteht Wilson einen
kurzzeitigen Freiraum, in dem die gesetzgebende Macht ihren direkten
Einfluss eingebüßt hat und somit Platz für eine zügellose, freie
Entfaltung geboten ist. Beispiele einer TAZ wären Festivals, spontane
Besetzungen oder Umnutzungen von Gebäuden und öffentlichen Flächen,
aber auch der Karneval oder die Walpurgisnacht. Solche mit den TAZ
vergleichbare Netzwerke sind für Graeber nicht nur eine politische
Forderung, sondern im Alltag, in verschiedensten Formen und ungebunden
von einem Ort, bereits vielfach existent. Unsere Einleitung soll eine
kleine Vorstellung davon geben, wie Netzwerke der gegenseitigen Hilfe
unseren Alltag durchziehen, entgegen der wissenschaftlichen
Überzeugung, dass in Zukunft Individualisierung und Entfremdung weiter
zunehmen.
Werden die Ausgegrenzten der Moderne, wie sie Zygmunt Bauman in seinem
Buch „Verworfenes Leben“[16] beschreibt, sich zu wehren wissen? Graeber
würde dies wohl teilweise bejahen und die Menschen, die im System der
Globalisierung zu den Verlierern gehören, als den Keim der Auflösung
unserer bestehenden Ordnung betrachten. Massenmigration, Terrorismus,
Aufstände und Widerstand gegen die fragwürdigen Praktiken weltweit
agierender Konzerne wären als Beispiele zu nennen. Als „counterpower“
bezeichnet er das Phänomen, dass jede Gesellschaft in sich selbst im
Widerspruch lebt und somit ihre eigene Auflösung in sich trägt.
Gleichzeitig schafft die counterpower Institutionen, um sich selbst
gegen Herrschaft und Macht zu schützen.[17] Diese Idee stammt von
Clastres, lässt sich aber in der heutigen Gesellschaft etwas
schwieriger nachvollziehen. Genau diese zu erforschen, würde Graeber
von einer Anarchistischen Anthropologie einfordern. Dass dieses Prinzip
nicht auf unsere Gesellschaft zu reduzieren oder nur auf kleine Gruppen
anwendbar ist, belegen Beispiele, wie die südmexikanische EZLN, das
globalisierungskritische Netzwerk Attac oder auch die weiter wachsende
Bedeutung von Wikis im Internet. Aber auch die von George W. Bush
ernannten „Feinde der Freiheit“ Al Qaida (dt. Die Basis) haben erkannt,
welche Vorteile ein Netzwerk mit Chefideologen aber ohne Chefetage
bietet.
Keine Scheu zeigt Graeber davor, klar Stellung zu beziehen, für die,
wie er sie nennt „little guys“.[18] Eine klare politische Theorie
fordert er ein, hütet sich aber davor, sich mit anarchistischen
Klassikern wie Bakunin oder Proudhon zu identifizieren. Anstelle dieser
lässt er durchblicken, dass die asambleas barreales, die 2002 nach dem
Zusammenbruch der nationalen Wirtschaft in Argentinien gebildet wurden,
einen weitaus höheren Anteil Mitbestimmung des Einzelnen in sich
trugen, als parlamentarische Demokratien, da sie auf Konsensbeschluss
aufgebaut waren.[19]
Die Anthropologie sei besonders geeignet für die Offenlegung
alternativer Strukturen, da sie die einzige und letzte Wissenschaft
ist, die sich mit staatenlosen Gesellschaften beschäftigt und gezeigt
hat, dass der Staat nur in einer sehr kurzen Spanne der
Menschheitsgeschichte in Erscheinung getreten ist.[20] Die feste
Überzeugung westlicher Wissenschaften, die nicht nur davon ausgehen,
dass der Staat die höchste Form der politischen Organisation darstellt,
sondern schlichtweg ein Leben ohne Staat nicht möglich ist, da dies in
Mord, Totschlag und Chaos enden müsste, sieht Graeber also als
schlichtweg falsch an. Des Weiteren sollte die Ethnologie nicht müde
werden, zu betonen, dass der Staat und die Nation eine „imaginary
totality par excellence“[21] sei, wie sie auch schon Benedict Anderson
1983 beschrieben hat, also eine gemeinschaftliche Vorstellung der
Zusammengehörigkeit, die zwar Auswirkungen auf die Realität hat, jedoch
selbst nur in den Köpfen der Menschen existiert.[22] Von Natur aus gibt
es keine Staatsbürgerschaften oder staatlichen Grenzen. Diese
Kategorien existieren nur in den menschlichen Köpfen und treten in
Symbolen und Ritualen zutage. Erst der feste Glaube an die „Imagined
Community“ lässt uns zu der Überzeugung kommen als „Deutsche“ geboren
zu sein und dazu zu gehören. So stellt sich Graeber — ähnlich wie
damals Kropotkin gegen den Sozialdarwinismus — gegen die Staatlichkeit
als unumstößliches Dogma.
Obwohl die Menschen im Paläolithikum bessere Zähne gehabt hätten, als
der durchschnittliche US-Amerikaner heute, lehnt er jeden Primitivismus
ab, da ein Weg „zurück“ schlichtweg nicht nachzuvollziehen sei und wir
die reale Welt so annehmen müssten, wie sie ist.[23]
Ähnlich wie die Aktionsethnologie, die im folgenden Kapitel noch
genauer umrissen wird, sieht Graeber ein weiteres Forschungsgebiet in
der Aufdeckung von Hierarchien und deren anschließender Kritik, sowie
der Kritik am Staat allgemein und Gegenentwürfe zu diesem. In der
Lohnarbeit sieht er beispielsweise eine moderne Form der Sklaverei und
schlägt ihre Abschaffung vor. Eine Alternative lässt er durchblicken,
vermeidet jedoch sich festzulegen, indem er den im Anarchismus
klassischen Vorschlag der gleichmäßigen Aufteilung von Aufgaben zu
gleichen Vergütungen andeutet und waghalsige Prognosen zur Übernahme
der „dreckigen“ Arbeit durch die Technik voraussieht.[24]
David Graeber bietet in seinen „Fragments of an Anarchist Anthropology“
jede Menge Angriffspunkte zur Kritik. Auch wenn er sich durch den
Zusatz „Fragments“ zu schützen versucht, ist es schwer verständlich,
warum er auf 105 Seiten eine solche Vielzahl von Themen kurz
anschneidet, mit denen sich sowohl die Ethnologie als auch der
Anarchismus seit Jahrzehnten beschäftigen. Damit wirft er oftmals mehr
Fragen auf, als er beantworten kann. Andererseits muss man ihm zugute
halten, dass er Ideen bündelt, weiterdenkt und eine klare Gegenposition
zu so mancher Überzeugung in Ethnologie und Gesellschaft einnimmt.
Methodik der anarchistischen Anthropologie und ihre Verwandtschaft zur Aktionsethnologie
Wie sieht nun die methodische Umsetzung einer Anarchist Anthropology
aus? Mit welchen bereits bekannten Herangehensweisen können wir diese
vergleichen? Welche ethischen Implikationen beinhaltet solch ein
Vorgehen?
Anarchistische Ethnologie ist nach David Graeber besonders geeignet,
Strukturen und Alternativen jenseits von Hierarchie und Staatlichkeit
aufzuzeigen, nicht nur weil die Ethnologie sich schon
traditionellerweise mit nicht-staatlichen Gesellschaften befasste,
sondern gerade wegen ihrer Vorgehensweise, die es erlaubt, zu jener
verborgenen Symbolik und moralischen und pragmatischen Logik
vorzudringen, die die Handlungen eben dieser Menschen prägen. In dem
der Ethnologe durch Zuschauen und Mitmachen Alternativen zur
hierarchischen Sozialstruktur des Staates aufdeckt, erfährt er damit
Möglichkeiten, Beiträge und Beispiele für menschliches Miteinander, die
er sonst nicht erkennen würde. Indem er solche Alternativen formuliert,
kann er diese auch für das eigene Handeln nutzbar machen, um einer
gerechteren und freieren Gesellschaft den Weg bereiten zu können.[25]
Uns erinnert der Aktivismus der anarchistischen Anthropologie stark an
die Grundannahmen der Aktionsethnologie. Die Aktionsethnologie oder
Action Anthropology war eine ethnologische Forschungsrichtung, die
ihren Ausgang im 1948-58 durchgeführten Fox Projekt von Sol Tax fand.
Auch wenn dieses Projekt scheiterte, so entstanden doch theoretische
und praktische Erkenntnisse die zahlreiche Feldforschungen danach
prägten. Laut Sol Tax haben Aktionsethnologen einerseits den Anspruch,
einer Gruppe, bei der man forscht zu helfen, also sich bewusst für sie
einzusetzen und andererseits neues Wissen im Handeln, in der Praxis mit
den Menschen zu erlangen.[26] In dem der Aktionsethnologe seine
„eigenen“ Machtverhältnisse hinterfragt (studying up) und im Dialog mit
den Menschen arbeitet, ist der Forschungsprozess offen genug um auch
Strukturen zu entdecken, die jenseits der eigenen gewohnten
Vorstellungen liegen.
Viele Gemeinwesen, die anarchistisch organisiert sind, stehen im
offenen Widerspruch und Widerstand zu einem Staat innerhalb dessen sie
funktionieren. Der Staat ist i.d.R. ein System, das auf Ausbeutung und
Klassenteilung beruht. Ob der Staat dabei aus einer Klassenstruktur
hervorgeht, wie es orthodoxe Marxisten behaupten würden oder ob die
Klassenstruktur eher aus einer Vormacht und zwangausübenden Macht
einzelner Personen entsteht, wie dies Pierre Clastres mancherorts
vorsichtig behauptet, bleibt umstritten.[27] Eher ist wohl
wahrscheinlich, dass sich beide Aspekte nicht voneinander trennen
lassen.[28]
Unserem Erachten nach kann eine anarchistische Anthropologie in Zeiten
des Ausbaus des staatlichen Machtmonopols, fortschreitender
Entmündigung und stärkerer Beschneidung der Freiheit des Individuums im
Namen der gesellschaftlichen Sicherheit, ihren wertvollen Beitrag für
die Gemeinschaft leisten. Als Mittel zur Offenlegung und Kritik an
Machtkonzentration und -missbrauch dient sie dabei sicherlich genauso
gut, wie der Erarbeitung von Alternativen.
Fußnoten:
[1] Chomsky, Noam 2000: Die Politische Ökonomie der Menschenrechte. Politische Essays und Interviews. Grafenau: Trotzdem-Verlag.
[2] Kropotkin, Peter 1993 [engl. Orig. 1902]: Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt. Grafenau: Trotzdem-Verlag.
[3] Clastres, Pierre 1976 [frz. Orig. 1974]: Staatsfeinde: Studien zur politschen Anthropologie. Frankfurt/ M.: Suhrkamp.
[4] Graeber, David 2004: Fragments of an Anarchist Anthropology. Chicago: Prickly Paradigm Press. 23.
[5] Barclay, Harold 1985 [engl. Orig. 1982]: Völker ohne Regierung.
Eine Anthropologie der Anarchie. Edition Schwarze Kirschen 6. Berlin:
Libertad Verlag. 21.
[6] Ibid.
[7] Ibid.: 12.
[8] Ibid.: 49-52.
[9] Ibid.: 29.
[10] Ibid.: 57-8.
[11] Ibid.: 58.
[12] Ibid.: 50.
[13] Vgl. hierzu auch:
Kropotkin, Peter 1993 [engl. Orig. 1902]
Luxemburg, Rosa 1975: Einführung in die Nationalökonomie. In: Dies.:
Gesammelte Werke. Bd. 5. Ökonomische Schriften. Berlin/ DDR: Dietz.
524-778.
[14] Graeber, David 2004.
[Anm. d. Verf. v. 25.11.08: Der Text steht dem hiesigen Publikum
seit kurzem in deutscher Übersetzung zur Verfügung! Graeber, David 2008
[engl. Orig. 2004]: Frei von Herrschaft. Fragmente einer
anarchistischen Anthropologie. Übersetzt von Werner Petermann.
Wuppertal: Edition Trickster im Peter Hammer Verlag.]
[15] Bey, Hakim 1994: TAZ. Die Temporäre Autonome Zone. Berlin: Edition ID-Archiv.
[16] Bauman, Zygmunt 2005: Verworfenes Leben. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
[17] Graeber, David 2004: 24.
[18] Ibid.: 98.
[19] Ibid.: 82.[20] Ibid.: 98.
[21] Ibid.: 65.
[22] Anderson, Benedict 1983: Imagined Communities. Berlin: Ullstein.
[23] Graeber, David 2004: 54.
[24] Ibid.: 82.
[25] Ibid.: 11-2.
[26] Amborn, Hermann 1993: Handlungsfähiger Diskurs: Reflexionen zur
Aktionsethnologie. In: Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich; Stagl, Justin
(Hg.): Grundfragen der Ethnologie. Beiträge zur gegenwärtigen
Theorie-Diskussion. Berlin: Reimer. 129-50.
Seithel, Friderike 1990: Action Anthropology. In: Gehling, Andreas
(Hg.): Ethnoreader 1. Jahreshefte für transdisziplinäre Ethnologie.
Emsdetten: Verlag Andreas Gehling. S. 47-77.
[27] Clastres, Pierre 1977: Über die Entstehung von Herrschaft. Ein
Interview. In: Unter dem Pflaster liegt der Strand. Bd. 4. Berlin:
Karin Kramer Verlag. 102-41.
[28] Vgl.: Godelier, Maurice 1987 [frz. Orig. 1982]: Die Produktion der
großen Männer. Macht u. männl. Vorherrschaft bei d. Baruya in
Neuguinea. Frankfurt/M; New York; Paris: Campus. 34.
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