Argentinien |
17.04.2011 12:00 |
Anne Phillips-Krug
Generalstreik für gerechtere Löhne
Anfang
des 20. Jahrhunderts prägten Schaffarmen das Bild Patagoniens. Vier
Fünftel des Landes gehörten englischen Großagrariern – den Nachfahren
derer, die ab 1890 die Falklandinseln verließen, um sich an der
patagonischen Küste anzusiedeln. Der Wollboom begann im Jahr 1877 mit
der Einfuhr von Schafen, das Übermaß an Land und überaus billiger
Arbeitskraft stellte die patagonische Wollindustrie bald über jede
Konkurrenz. Die auf den Estancias beschäftigten Arbeiter – unter ihnen
viele Chilenen – lebten dabei oft in extremer Armut und ohne soziale
Rechte. Politik und Polizei arbeiteten den Latifundisten zu. Erst als
Arbeiter wie der Spanier Antonio Soto, der Gaucho Facón Grande oder der
Deutsche Pablo Schulz auftauchten, die sich zur Arbeiterbewegung
zählten, sollte sich das ändern, meint Osvaldo Bayer. „Argentiniens
Arbeiterbewegung war vom Anarchismus italienischer und spanischer
Einwanderer geprägt, während der Marxismus mit den Deutschen kam, die
bald eine Sozialistische Partei gründeten. Anarchismus, Syndikalismus
und Marxismus – das waren einst die großen Bewegungen.“
Angeführt von russischen, polnischen und
deutschen Anarcho-Syndikalisten begannen die Landarbeiter in der
Patagonien-Provinz Santa Cruz Anfang der zwanziger Jahre, für bessere
Arbeitsbedingungen zu kämpfen, und traten in einen Generalstreik für
gerechtere Löhne, ausreichend Lebensmittel und Kerzen für ihre
Unterkünfte. Die englischen Großgrundbesitzer verglichen daraufhin ihr
Schicksal umgehend mit dem Los russischer Aristokraten nach der
Oktoberrevolution. Und Präsident Hipólito Yrigoyen schickte
Oberstleutnant Varela, um mit den Streikenden abzurechnen.
Osvaldo
Bayer erzählt, seine Eltern hätten damals in Río Gallegos gewohnt, der
Hauptstadt von Santa Cruz. „Auch als wir schon lange in Buenos Aires
lebten, erzählte unser Vater oft, was er in Patagonien erlebt hatte. Er
war ein sensibler Mensch und hatte unter diesen Erfahrungen sehr
gelitten. In den sechziger Jahren studierte ich dann Geschichte und
begann, die Streiks von 1921/22 zu erforschen, über die zuvor nie
irgendetwas veröffentlicht worden war. Ich recherchierte, sichtete
Dokumente der Armee, sprach mit Zeitzeugen und schrieb schließlich mein
Buch Aufstand in Patagonien. Das Ganze dauerte acht Jahre und kostete
mich acht Jahre Exil, als 1976 die Obristen um General Videla in
Argentinien eine Militärdiktatur errichteten.“
Bayer verfasste
auch das Szenarium für Héctor Oliveras’ gleichnamigen Film Aufstand in
Patagonien, der 1974 bei den Westberliner Filmfestspielen einen
Silbernen Bären gewann und überall mit großer Begeisterung aufgenommen
wurde. Ursprünglich – erinnert sich Bayer – sollte der Film mit der
Episode über die Prostituierten von Puerto San Julián enden und zeigen,
wie Varela seine vom Töten erschöpften Soldaten in die Bordelle der
Umgebung schickt. Als eine Gruppe in Puerto San Julián eintrifft, kommt
ihnen die Madame des Freudenhauses La Catalana schon auf der Straße
entgegen. Es gebe ein Problem, teilt sie den Männern mit. Und
tatsächlich: als die Soldaten den Salon betreten wollen, verweigern
ihnen Maud Foster, Consuelo García, Ángela Fortunato, María Juliache
und Amalia Rodríguez den Zutritt. Vom Massaker an den Arbeitern
entsetzt, gehen sie mit Besen und Geschrei auf die Soldaten los:
„Mörder!“, „Schweine!“, „Mit Mördern gehen wir nicht ins Bett!“, rufen
sie. Den Soldaten vergeht die Lust – die Frauen werden bald verhaftet,
der Nachtklub bleibt fortan geschlossen.
Doch dieser geplante
Schluss fiel der Zensur zum Opfer. In letzter Minute – die
antikommunistischen Todesschwadronen haben schon sein Todesurteil in
einer juntafreundlichen Zeitung veröffentlicht – kann Osvaldo Bayer
1976 mithilfe des deutschen Kulturattachés vor den Schergen der
Militärjunta ins Ausland fliehen. Er lebt zunächst in Essen, dann in
Westberlin, später in Linz am Rhein. Dass der vierte Band von Aufstand
in Patagonien, der in Argentinien nicht mehr veröffentlicht werden
konnte, schließlich in Deutschland erschien, erstaunt den
Schriftsteller bis heute: „Das ist doch eine unglaubliche Sache, wenn
ein Buch, das von einem solchen Augenblick in der argentinischen
Geschichte handelt, auf Spanisch in Deutschland veröffentlicht werden
muss. Aber ich war eben im Exil. Als das 1983 vorbei war, traf ich auf
ein komplett verändertes Land. Die Militärs mussten gehen, weil sie
1982 den Falkland-Krieg gegen Großbritannien verloren hatten.
Triumphieren konnten sie trotzdem: Argentinien war zu einem anderen,
der Angst ausgelieferten Land geworden. Es gab eine Jugend, die nicht
mehr über Politik reden, sondern sich nur noch mit alltäglichen Dingen
und Rock’n’ Roll beschäftigen wollte. Während der sechziger und
siebziger Jahre hatten sich junge Argentinier für die Revolution
begeistert und Kuba als Beispiel empfunden.”
Denkmal auf dem zentralen Platz
Dennoch
hat sich im vergangenen Jahrzehnt in puncto Geschichtsbewusstsein viel
getan. Mittlerweile erinnert eine Reihe von Monumenten in Santa Cruz
und an anderen Orten an die Textilarbeiter, die einst in den großen
Streiks des frühen 20. Jahrhunderts ihr Leben ließen. Was die
couragierten Frauen aus Puerto San Julián betrifft, so ist über ihr
weiteres Schicksal wenig bekannt. Man weiß, dass die meisten des Ortes
verwiesen wurden und niemals wiederkamen – bis auf Paulina Rovira, die
Prinzipalin des Hurenhauses.
Dennoch: „Diese Frauen gelten
mittlerweile als Heldinnen, besonders unter Studenten“, freut sich
Bayer. „Bei einem meiner Besuche sagten sie mir: Osvaldo, wir müssen
ihnen ein Denkmal errichten und zwar auf dem zentralen Platz der Stadt.
Ich fand das eine wunderbare Idee und war sofort bereit, mich für ein
solches Monument einzusetzen. Am nächsten Morgen kam der Bürgermeister
in mein Hotel und meinte: Herr Bayer, glauben Sie nicht, dies geht ein
bisschen zu weit? Sehen Sie, an diesem Platz erinnern wir an San
Martín, unseren großen Nationalhelden, da können wir nicht ein Mahnmal
für ein paar Huren danebenstellen. Eine Bronze-Plakette mit den Namen
der Frauen sei genug. Im Endeffekt haben sich die Studenten
zerstritten, und aus dem Projekt wurde sowieso nichts. Aber wenn
Touristen nach Puerto San Julián kommen, ist der Platz, an dem damals
das Bordell stand, eines ihrer Ziele. Und alle kennen die Geschichte
der fünf Frauen.”