Buenos Aires: Mord beim Eisenbahner-Protesten
Gegen zwölf Uhr mittags machte sich eine Delegation prekarisierter
LeiharbeiterInnen, gemeinsam mit linken Organisationen wie PO und PTS
(Partido de los Trabajadores Socialistas, "Partei sozialistischer
ArbeiterInnen") auf den Weg zur Station Avellaneda, um dort die
Bahnstrecke zu blockieren und die vollständige Wiedereingliederung
aller entlassenen oder LeiharbeiterInnen der Eisenbahnlinie zu fordern.
Dort wurden sie allerdings von etwa 120 ProvokateurInnen, die Uniformen
des Unternehmens trugen (unter ihnen auch Antonio Luna und Pablo Diaz,
Gewerkschaftsbürokraten der UF), sowie einer Polizeikette erwartet.
Aufgrund der offensichtlichen Gefahr – bereits in der Vergangenheit
hatten diese Schlägertrupps die Proteste mit Steinen und Stöcken
angegriffen – entschieden die DemonstrantInnen, dort nicht die Gleise
zu besetzen, sondern weiterzuziehen und an anderer Stelle auf die
Gleise zu gehen. Sowohl die Polizei wie auch die SchlägerInnen der
Gewerkschaftsbürokratie begleiteten allerdings den Protestzug.
Bei
mehreren Gelegenheiten warfen die ProvokateurInnen Steine auf die
DemonstrantInnen, wobei sie von der Polizei unterstützt wurden, die mit
Gummi auf den Protestzug zielte, sodass nirgends eine Gleisbesetzung
möglich war. Daraufhin entschieden die DemonstrantInnen in einer
Versammlung, die Aktion abzubrechen und zu einer erneuten Versammlung
am Folgetag aufzurufen. Gegen Ende der Versammlung griffen die
Schlägertrupps erneut mit Steinen an, woraufhin sich der
Selbstverteidigungstrupp der Demo formierte und die Attacke ebenfalls
mit Steinen zurückschlagen konnte. Die Polizei schützte während dieser
ganzen Zeit die AngreiferInnen. Als sich die DemonstrantInnen
zurückzogen, öffnete die Polizei auf einmal die Kette und ließ die
AngreiferInnen ein weiteres Mal passieren. Diese nutzten die
Gelegenheit und mindestens zwei von ihnen zogen Schusswaffen und
zielten auf die DemonstrantInnen, wobei Mariano Ferreyra tödlich
getroffen und drei weitere zum Teil lebensgefährlich verletzt wurden.
Als die Attentäter flohen, unternahm die Polizei nichts.
Schon
zu Beginn der Proteste vor 8 Monaten stellte sich die
Gewerkschaftsbürokratie der UF um José Pedraza gegen die Forderungen
der Entlassenen und LeiharbeiterInnen und tat alles, um die Proteste zu
verhindern. Dies geschah einerseits, weil die Gewerkschaftsbürokratie
Argentiniens die immer stärker werdende Basisgewerkschaftsbewegung
fürchtet, die sich in den letzten Jahren vor allem in Buenos Aires
entwickeln konnte, mit Beispielen wie den ArbeiterInnen von
Kraft-Terrabusi oder der U-Bahn, und die Position und Privilegien der
BürokratInnen hinterfragt. Andererseits ist die Gewerkschaftsbürokratie
untrennbar mit den Unternehmen verbunden, insbesondere bei der
Eisenbahn, wo der Sohn von Pedraza sogar der Besitzer eines der
Subunternehmen ist, gegen die die AktivistInnen demonstriert hatten. Um
die Proteste zu delegitimieren, lancierte sie unter anderem eine
Medienkampagne unter dem Titel „Wir Eisenbahner blockieren keine
Gleise“, kritisierte die „Instrumentalisierung durch linke Gruppen“ und
organisierte schon mehrmals Angriffe auf Proteste der
LeiharbeiterInnen.
Auch nach den Geschehnissen von gestern
beharrte die UF auf dem Standpunkt, dass die EisenbahnerInnen durch
linke Gruppen an der Ausübung ihrer Arbeit gehindert worden wären und
rechtfertigte die Angriffe auf die DemonstrantInnen. Dabei bestätigte
Pedraza, dass Teile der Truppe der Gewerkschaft angehörten, negierte
aber jegliche Verantwortung für die Schüsse. Der dahinter steckende
Zynismus zeigt die volle Härte, mit der die Gewerkschaftsbürokratie
bereit ist, ihre Privilegien, die sie durch Verhandlungen mit den
Unternehmen genießt, zu verteidigen, während sie einen Großteil der
EisenbahnerInnen mit ihren Forderungen im Regen stehen lässt. Dabei ist
sie offensichtlich sogar bereit, Tote hinzunehmen – und dass, obwohl
das Kampfniveau der argentinischen ArbeiterInnenklasse momentan noch
nicht so hoch ist, dass es die Privilegien der Gewerkschaftsbürokratie
ersthaft bedrohen würde. Dies zeigt den Grad der Degeneration der
Gewerkschaftsbürokratie und beweist, dass jeder Kampf für die
Forderungen der ArbeiterInnen auch gegen diese privilegierte Kaste
geführt werden muss, und zwar mit voller Härte.
Währenddessen
verurteilte die Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner die Angriffe
und verlautbarte, die Verantwortlichen zu finden und zu bestrafen.
Dabei ließ sie allerdings zwei Dinge unerwähnt: erstens die
Verbindungen, die die Regierung mit der Gewerkschaftsbürokratie im
Allgemeinen und im Besonderen auch mit José Pedraza besitzt (im letzten
Jahr stellte sie Pedraza auf einer Tagung mit den Worten vor: „Zeigen
wir also allen, welches das Modell gewerkschaftlicher Organisation ist,
welches glaubt, dass das Wichtigste nicht Zerstörung ist, sondern das
Erkämpfen von Verbesserungen für die Arbeiter.“ [sic!]); und zweitens
die Rolle, welche die Polizei in dem Vorfall spielte (warum ließ die
Polizei auf einmal die AngreiferInnen passieren – gab es eine Absprache
irgendeiner Art?). Doch schon jetzt ist klar, dass die
Kirchner-Regierung durch die Geschehnisse unter enormen politischen
Druck geraten wird, welcher die Position der Regierung massiv schwächen
wird.
Einer der Anführer der Proteste, der entlassene
Eisenbahner Pablo Villalba, sagte: „Wir können dieses Verbrechen nicht
unbestraft lassen. Wir müssen uns mobilisieren, bis die materiellen und
ideologischen Schuldigen im Gefängnis sitzen. Wir rufen alle
Organisationen dazu auf, uns in diesem Kampf zu begleiten, der auch
unsere Wiedereinstellung und die volle Übernahme aller
LeiharbeiterInnen einschließt, und die Schlägertruppe der Eisenbahn
zurückzuschlagen. Wir wissen, dass das keine einfache Aufgabe ist, da
die Gewerkschaftsbürokratie die Unterstützung der Regierung und des
Unternehmens besitzt, und wie wir heute gesehen haben, auch die der
Polizei.“ (La Verdad Obrera, Nr. 397)
Schon
gestern Nachmittag formierten sich die ersten Proteste gegen den Mord
an Mariano: die U-BahnerInnen von Buenos Aires machten einen
einstündigen Vollstreik im gesamten Stadtgebiet, und linke
AktivistInnen blockierten für mehrere Stunden die Kreuzung
Callao/Corrientes, bevor sie gegen halb 9 abends zum Bahnhof
Constitución weiterzogen, wo die Linie Roca beginnt. Heute blockierten
die ArbeiterInnen des Lebensmittelkonzerns Kraft-Terrabusi, die im
letzten Jahr einen langen und harten Arbeitskampf führten,
in Solidarität mit den Protesten für 3 Stunden die Autobahn
Panamericana, die Alaska mit Feuerland verbindet. Zusätzlich rief der
Gewerkschaftsverband CTA (Central de los Trabajadores de la Argentina)
zu einem nationalen Streiktag auf, an dem sich vor allem DozentInnen
und ArbeiterInnen von gerade oder bis vor kurzem im Kampf befindlichen
Unternehmen wie Paraná Metal beteiligten (die Unión Ferroviaria ist
Teil des anderen großen Gewerkschaftsverbands, der CGT (Confederación
General del Trabajo)). Außerdem riefen unzählige Organisationen zu
einem großen Protestmarsch von Callao/Corrientes bis zum zentralen
Plaza de Mayo auf, an dem laut Medienangaben bis zu 60.000 Menschen
teilnahmen.
In den nächsten Tagen und Wochen muss der Protest
nun weitergehen, bis die Schuldigen zur Verantwortung gezogen wurden.
¡A Mariano Ferreyra vengaremos / con la lucha popular / todos juntos en
la calle / por la huelga general! ("Für Mariano Ferreira bekommen wir
Rache / durch Massenkämpfe / alle gemeinsam auf die Straße / für den
Generalstreik!")

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