Buchbesprchung: Wie in Frankreich? Vergessene Arbeitskämpfe: Ein spannendes Streiklesebuch
Schon mal vom September- und Oktoberstreik 1950 in Österreich gehört?
Oder von Streiks und Hungermärschen in Deutschland kurz nach dem Ende
des Zweiten Weltkriegs? Kaum jemandem, auch in der Linken, dürften diese
Ereignisse bekannt sein. Das wundert Holger Marcks und Matthias
Seiffert, die Herausgeber des neuen Sammelbandes »Die großen Streiks.
Episoden aus dem Klassenkampf« wenig: Denn Streiks gehören – im
Gegensatz zu Kriegen – nicht unbedingt zu dem, was in der offiziellen
Geschichtsschreibung einen besonderen Stellenwert innehat. Nur einige
wenige Streiks, wie etwa der »Solidarnosc«-Streik 1980 in Polen, fanden
Eingang in die Geschichtsbücher und wurden umfassend dokumentiert.
Die Historiker Marcks und Seiffert, beide als aktive Gewerkschafter in
der anarchosyndikalistischen FAU (Freie ArbeiterInnen Union)
organisiert, trieb aber nicht allein die Lücke in der
Geschichtsschreibung dazu, die umfangreiche Recherche zu beginnen. Anlaß
für ihre Nachforschungen waren vor allem die Diskussionen, ob Streiks in
Zeiten von Globalisierung und neuer Technologien nicht längst überholt
wären. »Wir fanden das spontan merkwürdig und haben uns daraufhin damit
beschäftigt und entdeckt, daß es ein sehr spannendes Thema ist und es
viele unwahrscheinlich interessante Streiks gibt«, erläuterte Seiffert
auf einer Buchvorstellung Mitte Mai in Bonn.
So entstand 2005 zunächst eine Artikelserie in der Direkten Aktion, der
Zeitschrift der FAU. Diese Serie haben die Historiker nun aktualisiert
und um weitere Beiträge ergänzt. Seit April 2008 liegt damit der erste
deutschsprachige Sammelband vor, der die verschiedenen Streiks und
Streikformen des 20. Jahrhunderts exemplarisch an elf Streiks darstellt.
Die Auswahl, betonen die Herausgeber, ist subjektiv geprägt, orientiere
sich aber auch an inhaltlichen Kriterien: »Wir wollten keine Hitliste
der größten Streiks aufstellen«, erklärt Marcks, »wir haben bewußt eher
solche Streiks ausgewählt, die in Vergessenheit geraten sind«. Jedes der
elf Kapitel widmet sich detailliert einem Streik aus einem Jahrzehnt des
20. Jahrhunderts, der für eine bestimmte Streikform oder Region steht.
Dabei schildert jeweils ein einführender Beitrag die Geschehnisse, ein
weiterer geht auf den historischen/theoretischen/politischen Kontext
ein, während ein dritter eine stärkere Innensicht auf die Aktionen und
ihre Akteure liefert.
Dabei herausgekommen ist keine trockenes Fachbuch für Historiker,
sondern ein spannendes Lesebuch: »Wir wollten einen Einstieg in die
Thematik liefern, der sich unterhaltsam liest und die Streiks aus der
Perspektive der Protagonisten schildert«, erläutert Marcks. So berichtet
das 20köpfige Autorinnen- und Autorenteam – allesamt aktive
Gewerkschafter oder der libertären Bewegung nahestehend – auf gut 260
Seiten informationsreich über Arbeitskämpfe, deren Palette vom einfachen
Lohnkampf bis zum Generalstreik reicht. Vom überwältigenden Erfolg bis
hin zum totalen Fiasko spiegeln sie die Erfahrungen eines kompletten
Jahrhunderts Streikgeschichte wider – ohne jedoch den Anspruch auf
Vollständigkeit zu erheben: »Es gäbe für jedes einzelne Beispiel in
diesem Buch Dutzende weitere Streiks, die es genauso verdient hätten,
daß man darüber berichtet«, erklärt Marcks.
Ein inhaltlicher Schwerpunkt des Buchs liegt in dem Spannungsfeld
zwischen Basis und Gewerkschaftsführung und deren (oft widerstreitenden)
Strategien. Dabei agieren die Autorinnen und Autoren durchaus bewußt von
ihrem theoretischen und praktischen Hintergrund als Syndikalisten aus,
denn, so Marcks und Seiffert in ihrem Vorwort: »In mühevollen Prozessen
ringen sich die heutigen Gewerkschaften zu Erkenntnissen durch, die im
revolutionären Syndikalismus schon lange zu den Gewißheiten, ja den
Binsenweisheiten gehören«. So verwundert es nicht, daß in ihrem
Sammelband auch der Streik im öffentlichen Dienst 1995 in Frankreich
präsent ist, an dem die anarchosyndikalistische CNT sehr aktiv beteiligt
war und damit das Widererstarken des französischen Syndikalismus einläutete.
Doch egal ob Pennsylvania im Jahr 1909, Patagonien 1921 oder Italien
1969: Mit den gesammelten Beispielen wollen Marcks und Seiffert dazu
anregen, sich mit der eigenen Lage auseinanderzusetzen und für die
eigenen Rechte zu streiten – aber auch Möglichkeiten vermitteln, aus der
Geschichte zu lernen: »Nicht zuletzt geht es uns um die Gewinnung von
Lektionen über Strategien des Arbeitskampfes – und dafür ist gerade der
Vergleich verschiedener Streiktypen besonders nutzbringend«, so das Vorwort.
Die beiden Herausgeber zeigen sich angesichts der Entwicklungen der
letzten Jahre – etwa der Streikaktionen beim Airline-Caterer »Gate
Gourmet«, der Fabrikbesetzung bei »Bike Systems« in Nordhausen oder auch
des Lokführerstreiks der GDL – von einer »neuen Qualität der
Arbeitskämpfe« überzeugt. Ob »Kämpfen wie in Frankreich« aber ein
geflügeltes Wort bleiben wird oder auch hierzulande zu ebenso radikalen
wie massenhaften Auseinandersetzungen führen wird, bleibt abzuwarten.
Schlau machen dafür kann man sich jedenfalls schon mal im
»Streiklesebuch« ...
Holger Marcks/Matthias Seiffert (Hg.): Die großen Streiks - Episoden aus
dem Klassenkampf. Unrast Verlag, Münster 2008, 264 Seiten, 14,80 Euro
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